Page 191 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Typologie der Johannesgestalt              189


       bräischer  Ruach  und  christlichem  Geistbegriff.  Wie  die  drei  synthetischen
       Schlüsselmetaphern  der  Hymne,  das  „unschuldig  Wasser“  (V.  13),  die
       „leichtgebaueten Brücken“ (V. 8) und die „Fittige“ (V.  14), verbindet das Werk des
       Johannes  die  Ufer  und  Gipfel  des  Weltgeistes.  Die Johannesgestalt  markiert  die
       geistige  Wasserscheide  der  abendländischen  Kultur.  Der  „Nabel“  der  abendländi­
       schen Literatur ist eine Apokalypse.
           Die mythische Inseltopographie untermalt diese Nähe der Kulturen.  Wie ein
       „kleiner  Gipfel  der  Zeit“  ragt  die  Insel  (als  maritimer  „Berg“)  aus  der  geschicht­
       lichen  Senke,  die  das  Zeitalter  zwischen  Christi  Tod  und  der Jahrhundertwende
       um  1800  in  Hölderlins  Geschichtsmodell  darstellt.  Johannes  lebte  nämlich  auf
       Patmos in nächster Nachbarschaft zur Insel Kos, dem mythischen Ort des Peleus,
       des Vaters von  Achill.  Ganz  im  Sinne  Homers  galt  der Held  auch  Hölderlin  als
       Inbegriff  des  Kriegshelden  (‘Patmos’  II,  VV. 53-57).  Damit  wird  unterschwellig
       eine ganze mythische  Typologie von proteiscken  Inselheroen verlebendigt.  Neben
       Peleus  auf  der  Insel  Kos  klingt  Hyperion  in  seinem  Exil  auf  Salamis  an;  auch
       Philoktet  auf  Lemnos  ruft  sich  in  Erinnerung  (vgl.  ‘Wenn  aber  die
       Himmlischen...’, V.  85 und ‘Der Adler’, V. 8).

           Philoktet  verkörpert  in  ganz  besonderer  Weise  den proteiscken Heldentyp.
       Wegen seines lahmen Beines von den Seinen auf einer Insel zurückgelassen, wartet
       Philoktet  auf die  Rückkehr der Griechen.  Erst  nachdem  ihn  Odysseus  zurückge­
       holt  hat,  kann  er  das  Kriegsgeschick  im  Kampf  um  Troja  wenden.  Proteische
       Dulder- und Retterfunktion  sind damit  in der Gestalt  Philoktets  auch  mythogra-
       phisch in unmittelbarer Nähe zu Odysseus  angelegt.  Außerdem  ist von Philoktet
       überliefert,  daß  Herakles  ihn  in  ähnlicher  Weise  bevorzugte,  wie  Jesus  in
       Johannes  seinen  „Lieblingsjünger“  sah,  eine  Parallele,  die  nicht  nur  für  den
       Nachweis  der  Jesus/Herakles-Parallelen  in  den  frühen  Evangelien  fruchtbar  ge­
       macht wurde,  sondern die hier das mythische Verweisgeflecht zwischen Christus,
       Johannes, Herakles und Peleus/Philoktet noch verstärkt (vgl. Pfister 1937: 53 und
       Franz 1996: 218f.).
           Zusammenfassend läßt sich das Nebeneinander der messianischen Protagoni­
       sten  der  Menschheitsgeschichte  dialektisch  deuten,  und  zwar  in  der  Vorstellung
       eines Zugleichs von Nähe und Ferne. Diese Dialektik verschlüsselt zum einen die
       Imminenz  einer  Erwartung,  die  diesseitig  und  irdisch  konkret  ausgerichtet  ist
       („Nähe“),  Gott  selbst  aber  zum  anderen  nur  in  unendlicher  Annäherung  der
       verschiedenen  biblischen,  mythologischen  und historischen  Gestalten  einkörpern
       kann  („Ferne“).  Gott  ist  der  Menschheit  historisch  insofern  nahe,  als  seine
       Heilsverheißung  diesseitig  gemeint  und  „gegenwärtig“  ist  (‘Patmos’ I,  V.  129).
       Diese  „Gegenwärtigkeit“  meint:  geschichtlich-politisch präsent  und  auf  einen  hi­
       storischen   Moment,   die  Jahrhundertwende   um   1800,   bezogen.   Die
       „Gegenwärtigkeit“  (ebd.)  dieser vielen  Heroen  und Messiasse bringt  mehr  als  die
       bloß  pneumatische  Verwirklichung  des  Himmelreiches.  Denn  zur  geistigen
       Evokation des Himmelreichs müssen ja bekanntlich bloß zwei im Namen Christi
       Zusammenkommen  (vgl. Mt  18,  19f.). Diese Präsenz des Himmelreichs auf Erden
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