Page 190 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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188 IV. K apitel: Ikarus, C hristus und Johannes
Künder, nähert sich der griechischen Welt, indem es sich in seiner poetischen Ein
bildung in die Inselwelt Ioniens katapultiert.177 „Nähe“ signalisiert Identifikation,
Selbstgleichsetzung des hesperischen Wunsch-Johannes mit dem historischen
Vorbild des Apokalyptikers. Wie ein „Fremder“ fühlt sich der Deutsche nach sei
nem ikarischen Geistesflug (‘Patmos’ I, VV. 20-45)178 von Hesperien nach
Kleinasien, da er der heiligen Insel „naht“:
Und wenn vom Schiffbruch oder klagend
U m die Heimat oder
Den abgeschiedenen Freund
Ihr nahet einer
Der Fremden, hört sie es gern [...] (‘Patmos’ I, VV. 64-68)
Die „Nähe“ ist also eine zentrale Versinnlichung der messianischen Mythogenese:
So „nah“ sich die einzelnen Berge religiöser Menschheitsoffenbarungen (Horeb,
Moria, Olympos, Golgotha) gegenüberstehen, so unmittelbar erscheinen auch
„die Liebsten“ des Höchsten miteinander verwandt (Moses, Abraham,
Mohammed, Christus). Dieses Phänomen der „Nähe“ der großen einzelnen
zueinander ist die poetisch-metaphorische Umschreibung von Synkretismus: Mes
siasgestalten, Menschheitsführer und Heroen sind nur Stufen einer unendlichen
Annäherung an einen Gott, der sich letztlich jeglicher Verkörperlichung und aller
Bildlichkeit entzieht.
Damit erweist sich, wie gehaltvoll der theologische Kern einer poetischen
Metapher entfaltet werden kann. Begriff und Bild der „Nähe“ enthalten drei Stu
fen: erstens die Sprechweise in den Bildern des klassizistischen Mythos; das Wort
ist hier gemeint im Sinne einer geistigen Nähe der Nachahmungskultur
(Hesperien) zum klassischen Vorbild (Griechenland). Im Entwurf ‘Das Nächste
Beste’ postuliert Hölderlin das Hesperische als sein eigenes Vorbild, sein „nächstes
Bestes“. Zweitens meint „Nähe“ die Sprechweise in den Hypostasen des messiani
schen Logos, der das Gottesreich als „nah“ und imminent vorstellt; und drittens
die Sprechweise in den Rätseln des Enigmatischen, die das Göttliche nur in einer
unendlichen Folge von Annäherungen fassen kann, etwa im Sinne der approxima
tiven Theologe des Pietismus (vgl. Pauly/Wissowa 1979: 3, 710/2ff.).
Diese synkretistische Nähe verdichtet sich besonders in der Person des
„schönen“ Griechen Johannes (vgl. Link 1997: 43-52). Als hellenisierter Jude, der
einen Schlüsseltext der christlichen Messiaserwartung in Griechisch verfaßt, steht
er gleichsam zwischen den drei großen „Gipfelkulturen“ Griechentum, Judentum
und Christentum, leisten seine Schriften die Synthese aus griechischem Logos, he
177 Die „Nähe“ wird auch unmittelbar auf die Insel selbst bezogen: „Und da ich hörte / Der
n*j/?egelegenen eine / Sei Patmos [...]“ (‘Patmos’ I, VV. 51-53)
178 Dazu folgender Ausruf Hyperions: „Auch denk’ ich gerne meiner Wanderung durch die
Gegenden von Smyrna. Es ist ein herrlich Land, und ich habe tausendmal mir Flügel ge
wünscht, um des Jahres Einmal nach Kleinasien zu fliegen.“ (KHAII: 28, ZZ. 5-8)