Page 189 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Typologie der Johannesgestalt             18 7


       geistes bedingten Hölderlins Schwanken zwischen Religiosität und Säkularisation.
       Auch  wo  er  im  Rahmen  seiner  messianischen  Mythogenese  die  Grenzen  des

       Christlichen verläßt,  folgt  er dennoch  den  Strukturen  einer  poetischen  und

       „politischen“  Theologie.
           Indem  Hölderlin  den  Dichter  mit  dem  Verfasser  der  Offenbarung  identifi­
       ziert,  stellt  Hölderlin  sein  spätes  Gottesbild  in  den  Bann  eines  apokalyptischen
       Messianismus, der das Ende der Welt und das Kommen des Gottesreichs diesseitig
       denkt. Das lyrische Ich, durch das Hölderlin spricht, wählt ein Zentralwort dieses
       imminenten  Messianismus  der  Johannesoffenbarung  zum  „Losungszeichen“
       (V.  182) seiner Identifikation mit der Johannesgestalt:
                     Nab ist
                     Und schwer zu fassen der Gott. (‘Patmos’ I, VV.  lf.)
       Die  Formel  bannt  die  auseinanderstrebenden  Energien  der  messianischen  Immi-
       nenz  in  ein  großartiges  Bild:  der  kommende  Gott  ist  nah  und  unfaßbar  („fern“)
       zugleich.  Der Vers  ist  eine  Variation  eines  Wortes  aus  der Johannesoffenbarung
       (Offb  1,  3  und 22,  10; vgl.  auch Jesuslogie Mt  26,  18; Hes  12,  23):  „denn  die Zeit
       ist nahe“. Zugleich verschlüsselt diese ,,[U]nfaßbar[keit]“ die pneumatische Gottes­
       gestalt,  wie  sie  das  Johannesevangelium  in  den  vielen  Jesusworten  über  die
       Ungreifbarkeit,  Überweltlichkeit  und  Nichtbildlichkeit  des  Geistes  tradiert.175
       Wie ein Echo greift das lyrische Ich das Wort von der imminenten Nähe des Mes­
       sias einige Verse weiter auf und bezieht es auf die Vorläufer des nahen Gottes,  auf
       die mythischen und messianischen Seher, Künder und Führer der Geschichte:

                     Drum, da gehäuft sind rings
                     Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten
                     Nah wohnen, ermattend auf
                     Getrenntesten Bergen [...] (‘Patmos’ I, VV. 9-12)
       Wie  präsent  Hölderlin  diese  Vorstellung  einer  „Nähe“  des  Himmelreiches  im
       Blick  auf die  historische  Umbruchssituation  um  1800  war,  hat  bereits  das  Zitat
       aus dem Brief an den Bruder erwiesen.176
           Aber die Nähe  ist  nicht  nur Signal  der Imminenz.  Der Prozeß  der  Annähe­
       rung an das Göttliche beschreibt auch die Grundstruktur der ganzen Hymne. Das
       lyrische  Ich,  angezogen  von  der  Johanneischen  Wunschexistenz  als  Seher  und



         175 Jesus zur Samariterin am Brunen von Sychar 0h 4, 24): „Gott ist im Geist, und die ihn an­
           beten,  die  müssen  ihn  im  Geist  und  in  der  Wahrheit  anbeten.“  Jesus  während  seines
           Verhörs  zu  Pilatus  0h  18,  36):  „Mein  Reich  ist  nicht  von  dieser Welt.“ Jesus  zu  seinem
           zweifelnden Jünger Thomas nach der Auferstehung 0h 20, 29): „Selig sind, die nicht sehen
           und doch glauben!“
         176  „Diese,  teure Seele!  daß unsere  Zeit  nabe ist,  daß uns der Friede,  der jetzt  im Werden  ist,
           gerade das bringen wird,  was er und nur er bringen konnte; denn er  wird  vieles  bringen,
           was viele hoffen, aber er wird auch bringen, was wenige ahnden.“ (KHA III: 438, ZZ. 8-12;
           vgl. auch Feiertagshymne, VV. 69f.)
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