Page 188 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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186 IV. K apitel: Ikarus, C h ristus und Johannes
Damit steht der Apokalyptiker Johannes auf der Schwelle zwischen zwei Messias
erwartungen: der frühchristlichen Naherwartung, die ihre Kraft noch aus dem
jüdischen Wurzelboden zieht, also politisch brisant ist, und der himmelwärts ge
richteten pneumatischen Fernerwartung, die Paulus später aufgreift, um das
Ausbleiben von Jesu Wiederkehr aufzufangen.
Die apokalyptische Rolle der Johannesfigur, die Hölderlin mit Titel und
Szenerie der Hymne betont, vermittelt zwischen ikarischem Pneumatiker und
herakleischem Täufer: der Verfasser der Offenbarung ist der proteische Held, der
duldend-geistige und prophetisch-tätige Wesenszüge vereint.174 Zum einen ist auch
der Apokalyptiker ein ikarischer Mann des Geistes, zum anderen bezeugt er aber
in seiner Vision die Imminenz des Himmelreichs, die Gegenwärtigkeit und Welt
lichkeit des Jüngsten Gerichts und die herakleischen Züge des kommenden
Messias. Jacob Taubes betont diese Nähe des apokalyptischen Gedankenguts zu
den zelotischen Bewegungen:
Die Apokalyptik wird von der zelotischen Bewegung getragen. Apokalyptische Lite
ratur ist Literatur der Zeloten. Die apokalyptische Weissagung nährt und schürt die
zelotische Flamme. (Taubes 1991: 45)
Diese Gleichsetzung zwischen „zelotischem“ und „apokalyptischem“ Denken mag
noch nicht dem Forschungsstand der Zeit Hölderlins entsprechen. Aber die Ver
dächtigung der Offenbarung Johannis als eines jüdischen und damit häretischen
Textes ist religionsgeschichtlich schon sehr alt (vgl. Taubes 1991: 69;
Schweitzer 61951: III). Außerdem entstehen im 18. Jahrhundert, wie schon
gezeigt, die methodischen Grundlagen der modernen historischen Theologie
(siehe Kapitel 1.3 und 1.5). Zum einen säkularisierte und historisierte die Philolo
gie das christliche Selbst- und Offenbarungsverständnis. Zum anderen schärften
die Bibelkritik und -kontroversen erstmals das Verständnis der jungen Theologen
für die eminent apokalyptische Urgestalt des Christentums und für seine Genese
aus dem jüdischen Umfeld. Diese Entwicklungen des wissenschaftlichen Zeit
deuten [...] (ebd. VV. 27-35).“ Alle Deutungsvorgänge, so ließen sich diese Verse
wiedergeben, sind auch Tatvorgänge. Die messianische Hermeneutik besitzt stets ein
heroisches Element. Auslegung der Offenbarung ist immer schon „Anwendung“ der
Heiligen Schrift. Die Wendung „Der Zunge Gewalt, / Zu deuten“ ist eine figura
mythologica. Wie ein Oxymoron verdichtet die Wendung Tat- und Geistsphäre auf der
Wort- und Versehene („Zunge“ = Sprache, Geist; „Gewalt“ = Kühnheit, Tatsphäre). Ein
verwandtes Beispiel ist die Fügung „Des Wächters / Gesang“ aus ‘Der Einzige’ II
(VV. 8 lf.): „Wächter“ = Kriegs- und Heldensphäre; „Gesang“ = Sprach- und Geistbereich.
174 Im zitierten Hymnenfragment ‘...Der Vatikan...’ betont Hölderlin die apokalyptische Be
deutung der messianischen Kündergestalten, ohne die der Menschheit die Zeichen des
Jüngsten Gerichts verschlossen blieben. Hölderlin meint zunächst Heinse, der Verweis auf
den Jüngling in der Wüste“ (ebd. V. 19) folgt aber unmittelbar auf die Verse: „Damit
nicht, weil an diesem / Viel hängt, über der Büßung, über einem Fehler / Des Zeichens /
Gottes Gericht enstehet.“ (ebd. VV. 14-17).