Page 209 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die imaginäre Flugreise 20 7
Johannes dermaßen, daß von ihrer ursprünglichen Kontur nicht mehr viel bleibt.
Mythisierung, Historisierung und organische Naturierung treiben in Skizzen,
Entwürfen und Fragmenten zuletzt wahrhaft phantastische Blüten. Doldenartig
wuchern Genealogien und Nomenklaturen ins Unendliche und Unverständliche.
Mit der positiven Adlersymbolik in ‘Patmos’ erscheint der demokratisch-re
publikanische „Kranich“ aus der „elegischen“ Hymne ‘Griechenland. An
St[äudlin].’ (V. 44) endgültig verworfen.195 Mit der personal-kollektiven Doppel
struktur des jüdischen Messianismus bei Daniel erhält Hölderlin das ideale
Vorbild, um seine späte poetische, historische und religiöse Synthese zu struktu
rieren: die Rückkehr zur väterlichen Autorität ist so mit einer Rettung
revolutionärer Restideale wie z. B. Gewaltenteilung und Gleichheitsgrundsatz
vereinbar. Der Adler ist nicht absolutistischer Autokrat, sonder bloß „Fürst“, also
„Erster“ unter einer ganzen Gruppe von „Auserwählten“, den „Heiligen des
Höchsten“ (Da 7, 27), den „Blüten von Deutschland“ (‘Vom Abgrund nämlich’,
V. 35), die zusammenfinden im „Genius des Vaterlandes“.
In Hölderlins spezifischer Anverwandlung der Adlerallegorese signalisiert der
Wappenvogel zum einen dit proteische Restitution der ikarischen Sphäre, also des
Geistigen, Kontemplativen und Konzeptionellen. Zum anderen rufen die vielen
Namen der „Engel des Vaterlandes“, die Helden, Führer und Fürsten der deut
195 Vgl. die Hymne ‘Griechenland. An St.[äudlin]’ VV. 41-48, wo der Kranich einsam auf den
Ruinen der attischen Polis mit ihren Errungenschaften wie Demokratie und Gemeingeist
steht: „Attika, die Heldin, ist gefallen; / Wo die alten Göttersöhne ruhn, / Im Ruin der
schönen Marmorhallen / Steht der Kranich einsam trauernd nun; / Lächelnd kehrt der
holde Frühling nieder, / Doch er findet seine Brüder nie / In Ilissus heilgem Tale wieder -
/ Unter Schutt und Dornen schlummern sie.“ Den Kranich thematisiert Hölderlin im
Fragment ‘...der Vatikan...’ ebenfalls in einem politischen Sinne, der für den
Philhellenismus des 18. Jahrhunderts typisch war. Der freiheitliche griechische Kranich
wehrt sich gegen die Tyrannei der Türken: „Der Kranich hält die Gestalt aufrecht / Die
Majestätische, keusche, drüben / In Patmos, Morea, in der Pestluft. / Türkisch.“ (‘...Der
Vatikan...’, VV. 30-32)
Zur Geschichte der Adlerallegorese vgl. Grünberger 1994: lf.: „Gelten Paviane,
Bienen, Stare und Kraniche als gesittet und ‘republikanisch’, so ist der Adler das gesetzlose
Tier schlechthin“ In dieser „Gesetzlosigkeit“ des Adlers (in seinem „einzelgängerische[n]
Wesen“, Grünberger 1994: 1) liegt nicht nur der Grund für seine Eignung als tyrannisches
und kaiserliches Wappentier, das sich gegen den eitlen „Pfau“ der Kurie in Rom behauptet.
Vielmehr bildet dieses Merkmal bereits den Grund dafür, daß die Humanisten den königli
chen Vogel abwerteten und die Adlerallegorese zur „Herrschaftskritik“ umfunktionieren
konnten (vgl. Grünberger 1994: 2-4). Auch die entgegengesetzte Wiederaufwertung des
Königsvogels haben die humanistischen Polemiker schon vorweggenommen. So rehabili
tierte „die vor allem nach Luther einsetzende - fürstenreformatorische Orthodoxie“ den
Adler wieder als Inbegriff „guter Obrigkeit“ (Grünberger 1994: 62): „Der Adler wird hier
zum Symbol herrscherlicher politischer wie auch häuslicher Gewalt: Auch dem oikos kann
und soll der Adler zum Vorbild gereichen.“ (ebd.)