Page 211 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die Krallen des Geistes                 209


       selbst,  als  Glieder  einer  langen  messianischen  Kette  von  Führern,  Kündern  und
       Königen.  Diese  messianische  Genealogie  soll  beschlossen  werden  in  der  Wieder­
       kehr  des  Messias  Jesus  Christus  am  Ende  aller  Tage.  Keiner  der  historischen
       „Reformatoren“ und „Zeitveränderer“  (Fragment Nr.  48, VV.  12f.)  hat den escha-
       tologischen  Durchbruch  allerdings  bisher  vollbracht,  die  großen  Gestalten  in
       Mittelalter  und  Renaissance  befinden  sich  in  „Ein[em]  Wettlauf  unaufhaltsam“
       (‘Patmos’  II,  V. 210 /   1),  der  irgendwann  den  hesperischen Messias  (die  „Frucht
       von Hesperien“ vgl. ‘Brot und Wein’, V.  150)  an sein Ziel bringen wird. In diesem
       Sinne verheißt Chiron dem Achill  „Herakles Rückkehr“ (‘Chiron’, V. 52); und in
       diesem  Sinne  ist  das  Hesperidenabenteuer des Herakles  in  der  letzten  Triade  der
       ‘Friedensfeier’  zu  verstehen.  Und  auch  die  Heraklesfigur  in  ‘Der  Einzige’  und
       ‘Patmos’  II  hat  neben  der  synkretistischen  Funktion  (als  Vertreter  der  griechi­
       schen  Heroen)  diese  prototypische  Rolle  eines  hesperischen  Messias.  Immer
       wieder  zeigt  sich  der  geistigtätige,  der  pneumatisch-apokalyptische  Doppel­
       charakter  dieses  Messiasentwurfs,  der  „still“  in  der  abendländischen  Geschichte
       seit Jesu Tod und Auferstehung nachwirkt,  zugleich aber an  ein  „donnernd“ lau­
       tes Ende mit politischen Erschütterungen gemahnt:

                     Des ewigen Vaters viel
                     Dir gilt. Still  ist sein Zeichen
                     Am donnernden  Himmel. (‘Patmos’ I, VV. 202-204)
       Dieses  „stille  Zeichen“  des Pneumatischen,  Schriftlichen,  „Buchstabenhaften“  der
       rein geistigen Verkündigung des Evangeliums ist  aber nicht nur das  Wasserzeichen
       (siehe  unten)  des  Johanneischen  Logos,  das  verheißungsvoll  alle  geschichtlichen
       Wirren  und  Umwälzungen  („Gewitter“  und  „Orkane“)  vorüberziehen  läßt,  um
       als Verweis das Ende der Zeit zu beglaubigen:

           Nicht die Eschatologie Jesu, auch nicht die paulinisch-eschatologische Mystik von der
           Wende  des  kairos,  sondern  das  Geheimnis  des  Weltalls,  darin  Christus  als  Wasser­
           zeichen unauslöschlich eingegraben ist, ist der Inhalt des Johannes.  (Taubes  1991: 68)
       Die  Geschichte,  die  „Taten  der  Erde“  (‘Patmos’  I,  V. 209),  hat  dagegen  auch  ein
       wirkmächtiges,  eschatologisches Moment.  Das  „Zeichen“  antizipiert  zugleich  ein
       lautstarkes  Ende  mit  politischen  Umwälzungen,  die  in  ihrer  Kraft  und  Körper­
       lichkeit  natürlichen  Katastrophen  gleichen.  Als  „Buchstabe“  des  Evangeliums
       wirkt  das  „Zeichen“  nur  im  Stillen,  als  „Blitz“  schlägt  es  rächend  und  reinigend
       vom Himmel (vgl. ‘Der Einzige’ II, VV. 65-68; Schmidt  1990:  148):
                     [...] und heilige Schriften
                     Von ihm und den Blitz erklären
                     Die Taten der Erde bis izt [...] (‘Patmos’ I, W . 207-209)
       Die  „donnernden  Himmel“  und  die  „Blitze“  der  Geschichte  repräsentieren  nicht
       nur die Erschütterungen der Revolutions- und Koalitionskriege der unmittelbaren
       Gegenwart Hölderlins.  Sie sind auch Echos der eschatologischen Struktur der Hi­
       storie, Erinnerungen im voraus sozusagen: in Kriegen und Krisen entladen sich die
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