Page 212 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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210             IV . K apitel:  Ikarus,  C hristus und Johannes


          Geistesenergien der Zeitalter, die tektonischen Spannungen zwischen den treiben­
          den Mächten der Geschichte. Als seismische Beben antizipieren sie darüberhinaus
          Art  und Verlauf des  Zeitenendes,  das  alles Bestehende  apokalyptisch  erschüttern
          wird. Diese Doppelstruktur von stiller Pneumatik („heilige Schriften“, ‘Patmos’ I,
          V. 207)  und  gewitterhafter  Eschatologie  („donnernder  Himmel“,  ‘Patmos’  I,
          V. 294) findet sich auch in ‘Patmos’ II. Wieder verweisen pfingstliche Aussendung
          des pneumatischen Geistes und die fernhinrollenden Donner als Antizipation  der
          Apokalypse aufeinander:
                        Drum sandt er ihnen
                        Den Geist, und freilich bebte
                        Das Haus und die Wetter Gottes  rollten

                        Ferndonnem d[...\ (‘Patmos’ II, VV. 94-97)
          Aus  dieser  Kreuzung von  pneumatischer  und  apokalyptischer  Denkweise  gehen
          die  Männer hervor,  die  die Synthese aus geistigem  Ausharren  und politischer Be­
          freiungsanstrengung  -  dank  apokalyptischer  Hoffnung!  vollbringen  sollen:  die
          messianischen Helden Hesperiens, geistgesandt und donnergeboren  zugleich.196
              Die Stränge von Hölderlins messianischem Denken liegen an dieser Stelle zu­
          tage.  Kryptischer  dagegen  die  mythische  Komponente.  Hölderlin  mythisiert  die
          „Männer“  oder  „Söhne“,  die  hier  aus  der  messianischen  Mythogenese  hervor­
          gehen, mit einem Bild aus der Kadmosgeschichte, die ihm von seiner Übersetzung
          aus den Bakchen  des Euripides präsent war (KHA II: 690). Kadmos, der mythische
          Befreier Thebens, mußte zunächst einen Drachen überwinden; die Zähne des Un­
          geheuers,  die  seine  Beute  wurden,  hatten  magische  Kräfte.  Kaum  hatte  er  sie
          „ausgesät“, so erwuchsen ihm hilfreiche Krieger, mit deren Überzahl er die Feinde
          Thebens endgültig besiegte:
                        [...] und die Wetter Gottes rollten
                        Ferndonnernd, Männer schaffend, wie wenn Drachenzähne prächtigen
                        Schicksals [...] (‘Patmos’ II, VV. 96f.)197



           196  Typologisch  kommt  bei  Hölderlin  die  Geburt  der  Mittlergestalt  aus  dem  „Blitz“  oder
              „Gewitter“ mehrfach vor: In der Feiertagshymne bewirkt ein Blitz des Zeus die Geburt des
              Dionysos aus dem Schoß der Semele, der Tochter des Kadmos. Auch ‘Brot und Wein’, der
              elegische  Gesang  über  die  Abwesenheit  messianischer  Hoffnungsträger,  ist  voller  Echos
              dieser Geburt der großen einzelnen aus  dem „heiligen  Chaos“ von  „Blitz“ und „Donner“:
              „[...] Aber das Irrsal /  Hilft, wie Schlummer und stark machet die Not und die Nacht, /  Bis
              daß Helden genug in der ehernen Wiege gewachsen, /  Herzen an Kraft, wie sonst, ähnlich
              den  Himmlischen  sind.  /  Donnernd kommen  sie  drauf.“  [=  darauf folgend,  R.  C.]  (ebd.
              VV.  115-119)
           197  Die Verse  aus  ‘Patmos’  II*, VV. 94-97  (Überarbeitung der  „Bruchstücke der späteren Fas­
              sung“,   KHA   I:   1010-13)   verstärken   noch   den   apokalyptisch-pneumatischen
              Doppelcharakter  des  Gesamtentwurfs:  „Drum  sandt  er  ihnen  /   Den  Geist,  und  freilich
              bebte  /   Das  Haus  und  die  Wetter  Gottes  rollten  /   Ferndonnernd,  Männer  schaffend,
              zornige [Lücke] wie wenn Drachenzähne, prächtigen Schicksals [...].“
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