Page 213 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die Krallen des Geistes                 211


      Die  pneumatisch-politische  Doppelgestalt  der  messianischen  „Todeshelden“,  der
      „Männer“ und „Jünglinge“, wird im Bild dieser heroisch-pneumatischen „Aussaat“
      der „Drachenzähne“ verdichtet: Einerseits signalisiert die Metaphorik von Sämann
      und Ernte,  von  Hülse  und  Korn,  Spreu  und  Weizen,  eine  pneumatische  Bedeu­
      tung  (z. B.  bei  Paulus  oder  Lukas);  zum  anderen  aber  kleidet  sie  die  organische
      Vorstellung vom „Wachstum“ des  „Rettenden“  (‘Patmos’ I, VV. 3f.)  in ein mythi­
      sches  Bild,  das  die  Rettergestalt[en]  heroisiert  und  naturalisiert.  Der  natürliche
      Verlauf der Geschichte  bringt  große Befreier und Erlöser quasi organisch hervor.
      Dies geschieht  in der Weise, wie dem Kadmos eine Schar Krieger aus dem Acker­
      boden vor Theben erwächst, mit deren Hilfe er die Stadt befreit.198
          Die  kämpferische Kontur der herakleischen Messiasanwärter kontrapunktiert
      dabei die ikarisch  pneumatische Natur dieser „Männer“, wie sie durch die Geistin­
      spiration  des  Pfingsterlebnisses  (‘Patmos’ I,  VV. 94f.)  fundiert  ist.  Damit  rücken
      die Messias-Heros-Gestalten,  die  aus  den  Zähnen  des  Drachen  erwachsen,  in  die
      Nähe der „Todeshelden“,  mit  denen Hölderlin  die durchgeistigten Apostel zuvor
      verglich (‘Patmos’ I, V.  106). Die „Drachenzähne“ des Kadmos in ‘Patmos’ II sind
      die herakleische  Wiederauferstehung,  das „Wachstum“  der ikariscben  Pneumatiker,
       die dem Tode geweiht waren.
          Das  „Duldende“  der  Märtyrer  im  Gefolge  des  leidenden  Christus  und  das

       „Heroische“  („Herrliche“)  der  Reiniger  und Befreier  ergänzen  die proteische Syn­
      these des  Gesamtentwurfs.  Aus den  ikarischen „Todeshelden“  werden herakleische

       „Drachenzähne“,  todesbereite  Helden,  potentielle  Heldentode,  die  für  eine  Be­


        198  Das Bild der „Drachenzähne“ bleibt kryptisch bei allem Aufschluß, den es für die Deutung
          von ‘Patmos’ bietet. An anderer Stelle verwendet Hölderlin das bizarre Bild nämlich genau
          entgegengesetzt:  „Denn  gut  sind  Satzungen,  aber  /   Wie  Drachenzähne  töten  das  Leben,
          wenn im Zorne  sie schärft /  Ein Geringer oder ein König.“ (‘An die Madonna’, VV. 39-42)
          Die  „Drachenzähne“  stehen  hier  anti-messianisch  für  das  Positive  erstarrter  Ordnungen,
          die  „töten“  können,  z.  B.  der Absolutismus,  der  die  Freiheit  erstickt; der kleinbügerliche
          Jakobiner, der Anderskenkende guillotiniert.  In einem weiteren Sinne  liegen  die  religiöse
          Orthodoxie,  der  Ständestaat,  aber  auch  die  Nachahmungspoetik  im  Hof von  Hölderlins
          Semantik des „Tötenden“.
             Die Ambivalenz der „Drachenzähne“ (einmal als erlösende „Männer“, zum anderen als
          starre „Satzungen“) erhellt, wenn man Hölderlins Umdeutung der paulinischen Antithese
          von „Geist“ und „Buchstaben“ berücksichtigt  (vgl.  2 Kor 3, 6; Killy  1985:  66ff.).  Zunächst
          schließt sich Hölderlin dem Geist seiner Zeit an und bewertet die Positivität der Dogmen
          und „Satzungen“ negativ, im Sinne der stereotypen Vorstellung vom  „toten Buchstaben“.
          Aber  die  Schlußverse  von  ‘Patmos’ I  verkehren  diese  Vorstellung  ins  Gegenteil.  Der
          „deutsche Gesang“ soll demnach den „festen Buchstaben“ „pflegen“ und „Bestehendes“ „gut
          deuten“  (ebd.  VV. 222-226).  Hölderlin wertet  das  Positive  im  messianischen  Geiste  einer
          „reinen Positivität“  auf,  die  auch  als  eine  neue  oder  „gute“  Positivität  verstanden  werden
          soll: als messianisches Zeitalter der „Keinherrschaft“ (E. Kantorowicz). Dem folgt auch der
          Wandel der Metapher von den „Drachenzähnen“. Im Bild der „Männer“, die dem Kadmos
          aus dem Boden erwachsen, sind die Kadmoskämpfer heroisch „fest“ und unverrückbar wie
          der Buchstabe der Verkündigung.
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