Page 214 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
P. 214

212             IV.  K apitel: Ikarus,  C hristus und Johannes


          freiung  Hesperiens  von  Fürstenwillkür  (Partikularismus)  und  Fremdherrschaft
          (Revolutionskriege)  notwendig  sind,  eine  Vorstellung,  die  Hölderlin  in  der Ode
          ‘Der Tod fürs Vaterland’ in oft mißbrauchten Versen gefeiert hat:
                        [...]
                        Denn die Gerechten schlagen [die „Würger“], wie Zauberer,
                         Und ihre  Vaterlandsgesänge
                          Lähmen die Kniee den Ehrelosen.
                        O nimmt mich, nimmt mich mit in die Reihen auf,
                         Damit ich einst nicht sterbe gemeinen Tods!
                          Umsonst zu sterben, lieb’ ich nicht, doch
                           Lieb ich zu fallen am Opferhügel
                        Für’s Vaterland, zu bluten des Herzens Blut
                         Für’s Vaterland [...] (VV.  6-14)
          Die  „Vaterlandsgesänge“  sind  also  keineswegs  nur  Deutungsversuche  göttlichen
          Sinns  im  Rahmen  zahmer  christlicher  Buchstabenpflege,  dem  der  „deutsche
          Gesang“  zu  „folgen“  habe  (‘Patmos’  I,  VV. 224-226).  Vielmehr  verstehen  die
          „Vaterländischen Gesänge“  sich offenbar auch  als  heroische Losungen,  als messia-
          nische  Kampfansagen  an  das  Bestehende.199  Das  fügt  sich  auch  in  Hölderlins
          programmatische Erklärung seiner Poetik im  Brief an  Wilmans von  1803,  wo  er
          die  subjektiv  vergeistigten  „Liebeslieder“  verabschiedet,  um  sein  Projekt  der  ob­
          jektiven  Hymnik,  das  „reine  Frohlocken  vaterländischer  Gesänge“  einzuläuten
          (KHA III: 470,  ZZ.  19-22).  Eindeutig sind diese  „Gesänge“ für das  „Vaterland“  an
          messianischen  Erlösungshoffnungen  orientiert,  wie  der  Vergleich  mit  dem
          „Prophetischen“  von  Klopstocks  „Messiade“  und  „einiger  Oden“  im  gleichen
          Atemzug zeigt  (ebd.).  Eindeutig erteilt  er dem  „müden Flug“  der verinnerlichten
          „Liebeslieder“  eine  Absage  (hier  könnten  die  Diotima-Oden,  aber  auch  die
          Odenmode der zeitgenössischen Hymnik gemeint sein, vgl.  ebd.  ZZ. 32f.)200. Fol­
          gerichtig  bedient  Hölderlin  sich  hier  der  Flugmetapher:  die  einseitige
          Vergeistigung  und  Verinnerlichung lehnt  er  ab,  um  die  Orientierung  am  Allge­
          meinen,  Nationalen,  Politischen  einzuführen  und  beide  Pole  zum  Ausgleich  zu
          bringen.
              Der Gegensatz:  pneumatische Apostel versus heroische Drachenkämpfer ver­
          spannt  individuelle  und  universelle  Eschatologie  zu  einer  Dialektik  (vgl.



           199  Zum  Subtext  der  Anspielungen  an  die  Marseillaise  vgl.  Schmidt  KHA  I:  624-27.  Zum
              weiteren Kontext der nationalen Hymnik als Säkularisat des geistlichen Liedes vgl. Kurzke
              1997: 201-221.
           200  Hölderlin  bedient  sich  auch  gern  des  Flugbildes,  wenn  er  poetologisch  reflektiert,  so
              spricht er z. B.  in  seiner Rezension von  Siegfried Schmids  Schauspiel  „Die  Heroine“ von
              den  „merkurialischen  Schwingen“  poetischer Leichtigkeit  als positives  Gegenbild zu  dem
              „schwer Gewicht“, das sich Schmid in seinem Schauspiel  sprachlich  auflädt  (KHA II: 573,
              ZZ. 9-14).
   209   210   211   212   213   214   215   216   217   218   219