Page 216 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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214             IV. K apitel:  Ikarus,  C hristus und Johannes

           Die  Frau  kann  in  die  Wüste  fliehen,  wo  Gott  sie  ernährt  (12,  6),  und  Michael
           nimmt  mit  seinen  Engeln  den  Abwehrkampf gegen  den  Drachen  auf (12,  7),  ver­
           mag  aber  nicht  zu  siegen  (12,  8).  Schließlich  wird  „der  große  Drache,  die  alte
           Schlange, die da heißt: Teufel  und Satan“ hinausgeworfen  „auf die Erde“  samt sei­
           nen  (bösen)  Engeln  (12,  9).  Erst jetzt  greift  überraschend das  „Lamm Gottes“  ein
           und überwindet  die Drachenmächte  (12,  10f.).  Eine laute  Stimme verkündet  dem
           Johannes:
               Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich unseres Gottes geworden und die Macht
               seines Christus [...] und  sie haben ihn überwunden durch des Lammes Blut und durch
               das Wort  ihres  Zeugnisses und  haben ihr Leben  nicht  geliebt,  bis  hin  zum Tod.  (12,
               10f.)

           Damit ist der Drachen aus dem Himmel auf die Erde verwiesen (12,  12), wo er die
           Frau  weiter  verfolgt  (12,  13).  Noch  einmal  hilft  Gott  der  Frau,  indem  er  ihr
           „Adlerflügel“ verleiht  (12,  14),  die ihr wiederum die Flucht in die Wüste ermögli­
           chen. Die Schlange ersinnt ein letztes Mittel: sie speit eine Wasserflut, um die Frau
           zu ertränken (12,  15). Auf wunderbare Weise kommt der Frau die Erde zu Hilfe:

               Aber die  Erde  half der Frau und  tat  ihren Mund auf und  verschlang den Strom,  den
               der Drache ausstieß aus seinem Rachen.  (12,  16)
           Von da an sinnt der Drache darauf, alle „übrigen von  ihrem  Geschlecht,  die Got­
           tes Gebote halten [...]“ zu bekämpfen (12,  17).  Erst die spätere historisch-kritische
           Forschung  (Vischer,  Harnack)  hat  die  besondere  Bedeutung  dieses  Teils  der  Of­
           fenbarung  aufdecken  können:  in  der  Vision  vom  Weib  Israel  kreuzen  sich  die
           Messiasvorstellungen von Judentum und Christentum, und zwar
               [...] der streitbare, zum Gericht über die Weltmacht kommende Messias des jüdischen
               Volkes [...] und der Messias in der Gestalt des Lammes, welches bereits erschienen ist.
               (Taubes  1991: 69)
           Damit  verweist  die  Stelle  über  die  Geburt  des  Messias  auf  die  generelle  Doppel­
           struktur  der  Offenbarung  des  Johannes.  Es  handelt  sich  nämlich  nach  den
           Erkenntnissen  der  modernen  historischen  Theologie  um  eine  jüdische
           „Grundschrift“ mit christlichen „Interpolationen“ (Taubes  1991: 69f.).
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