Page 215 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
P. 215
Die Krallen des Geistes 213
Taubes 1991: 76). Die Jünger und Nachfolger Jesu werden zu messianisch inspi
rierten Herosgestalten („Drachenzähnen“) im Sinne einer universellen Eschatologie,
das heißt: individuelle Rettergestalten erlösen die ganze Menschheit. Andererseits
müssen die Apostel als „Todeshelden“, als Märtyrer ihrer Sache in Zeiten der poli
tischen „Nacht“, die Frist bis zum Jüngsten Tage überbrücken, und das geschieht
im Zeichen einer individuellen Eschatologie. Individuelle Eschatologie bedeutet:
nur die individuelle Seele kann durch den Erkenntniskampf des einzelnen gerettet
werden (vgl. Taubes 1991: 75f.). Die Apostel und ihre Nachfahren müssen sich
also proteisch gedulden, bis sie herakleisch eingreifen können. Dazu sind die
ikarisch geistigen Tugenden wie Schriftpflege, Studium, Exegese, Poesie und
Erziehung wichtig. Pädagogie als messianische Wegbereitung im Sinne des
Origines und politisch messianische Erwartung des „Menschensohns“ aus der
Präexistenz (Daniel) ergänzen einander.201
Die Implikation einer kämpferischen Messias- oder Engelsgestalt wird noch
durch die biblische Konnotation des Drachenbildes verstärkt. An zentraler Stelle
(Offb 12, Iff.) beschreibt der Verfasser den Kampf des Engelfürsten Michael mit
dem „großen, roten Drachen“ (12, 1-17; vgl. auch Abbildung Nr. 5). Auch bei
Daniel kommt Michael vor, und zwar ebenfalls als „Wächter“- und Engelsgestalt
(Da 10, 13; 12, 1). Der „Drachen“ ist für Daniel nur in den apokryphen „Stücken
zu Daniel“ (StD 2, 22) nachweisbar; doch kommen die Tiergestalten in seiner Vi
sion der vier Reiche (Da 7, 3-8) dem Drachenbild der Offenbarung nahe. Auch sie
verkörpern in ihrer Monstrosität das Böse, das es messianisch zu überwinden gilt.
Dazu sei das 12. Kapitel aus der Offenbarung kurz referiert: In seinem Ge
sicht nach der 7. Posaune sieht Johannes zwei Zeichen am Himmel: das eine
„Zeichen“ ist eine schwangere Frau, die gleichsam kosmisch bekleidet ist: „eine
Frau, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem
Haupt eine Krone von zwölf Sternen“ (Offb 12, lf.). Das „andere Zeichen“ (als
Gegenzeichen) ist „ein großer, roter Drache, der hatte sieben Häupter und zehn
Hörner und auf seinen Häuptern sieben Kronen, und sein Schwanz fegte den drit
ten Teil der Sterne des Himmels hinweg und warf sie auf die Erde.“ (12, 3-4a) Der
Drache bedroht die Frau: sie solle gebären, damit er ihr Kind fressen könne (12,
4b). Darauf bekommt die Frau einen Knaben, „der alle Völker weiden sollte mit
eisernem Stabe. Und ihr Kind wurde entrückt zu Gott und seinem Thron.“ (12, 5)
201 Den Einfluß des Präexistenzdenkens auf Hölderlins Messiasvorstellung in ‘Patmos’ verrät
die Verszeile: „Er ist aber dabei [= der Vater, R. C.]. Denn seine Werke sind / ihm alle
bewußt von jeher.“ (‘Patmos’ I, VV. 210f.). Das Bewußtsein von „jeher“ ist das präexistente
Schöpfungswissen Gottes aus dem Logos. Auch die Geburt der messianischen Mittler wie
Dionysos aus Blitz und Gewitter erklärt sich aus dieser präexistenten Struktur. Denn die
Gewittermetaphorik steht für das „heilige Chaos“ des Vorbeginns, der arche der göttlichen
Schöpfung, aus der der Messias stammt und der dem logos zugeordnet wird, mit dessen
Hilfe Gott die Welt erschuf. Daher die häufige Gleichsetzung von Mittlergestalt und
Sprachmetaphern wie „Wort“, „Gesang“, „Blume des Mundes“ oder „Poesie“ (vgl.
Bennholdt-Thomsen 1967: 1-6).