Page 218 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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216 IV. K apitel: Ikarus, C hristus und Johannes
Es ist historisch abwegig, einen solchen Forschungsstand der historischen Theolo
gie für Hölderlin und das 18. Jahrhundert gleichsam rückwirkend zu
implementieren. Dennoch ist eine solche doppelte Lesart der „Drachenzähne“ aus
‘Patmos’ II durchaus legitim, denn selbstverständlich schwingt die apokalyptische
Implikation des Drachens in der Anspielung auf den Kadmosmythos mit (vgl.
‘Patmos’ I, VV. 96f.). Daß Hölderlin mit der Drachenepisode aus dem Kadmos
mythos auf ein zentrales Bild der apokalyptischen Ikonographie abzielt, ist zwar
eine spekulative, aber durchaus gerechtfertigte Interpretation. Denn die Tatsache,
daß die moderne historische Theologie die Schrift des Johannes als eine christliche
Apokalypse mit jüdischen Kern erkannt hat, bestätigt nur, wie filigran und fein
fühlig Hölderlin seine messianische Mythogenese verwoben hat. Genau am
literarischen Kreuzungspunkt zwischen jüdischer und christlicher Apokalyptik
beschwört Hölderlin das Drachenbild, das die griechische Mythe des herakleischen
Befreiers mit dem jüdischen „Menschensohn“ und dem christlichen Heiligen
Michael verquickt (Da 7, 13; Offb 1, 13-17).
Im Kapitel über die Rezeption des Fragmentistenstreits habe ich erwähnt,
daß das Verständnis von Jesu Lehre in einem modernen historischen Sinne schon
vorgeprägt war: als historisches Zeugnis eines vor allem jüdisch geprägten Messia
nismus. In der Folge der Reimarus-Kontroverse kam es schließlich auch zu ersten
Zweifeln an der echten Verfasserschaft des Johannes (vgl. Schmidt 1990: 185-190).
Pietisten und Orthodoxe wiederum stritten für eine Verteidigung der Echtheit
und Wortwörtlichkeit der Johannesoffenbarung. Denn als einzige kanonische
Apokalypse des Christentums war das letzte Buch des Neuen Testaments für pie-
tistische Kreise von zentraler Bedeutung.202 Der zutiefst historische und das heißt
zuallererst: mythische und topische Charakter der Offenbarungstexte war auch
Hölderlin und seinen Kommilitonen bewußt. Natürlich folgten sie den Erkennt
nissen des Reimarus nicht naiv und ungebrochen. Der Wort-für-Wort-Analyse des
Hamburger Theologen konnten sie in letzter Konsequenz ebensowenig folgen,
wie dem provokativen Betrugsvorwurf oder dem radikalen Empirismus, der letzt
lich die gesamte Substanz der Offenbarung in Topik, Metaphorik und Her
meneutik aufzulösen drohte. Schließlich war Reimarus auch von seiten anderer
„historischer“ Exegeten wie Johann Salomo Semler (1725-1791) auf heftigsten Wi
derspruch gestoßen, und zwar durch dessen Schrift Beantwortung der Fragmente
eines Ungenannten insbesondere vom Zweck Jesu und seiner Jünger (1779).
202 Die Kontroverse um Auslegung und Historizität der Johannesoffenbarung umfaßte fol
gende Schriften (vgl. Schmidt 1990: 185ff.): Jeremias Friedrich Reuß: Vertbeidigung der
Offenbarung Johannis gegen den berühmten Halleschen Gottesgelehrten Herrn D[oktor].
Semler (1772); Johann Salomo Semler: Abhandlung von freier Untersuchung des Canons nebst
Antwort auf die Tübingische Vertbeidigung der Apokalypsis und Neue Untersuchungen über
Apokalypsin (1776 [1771-1775]); Heinrich Corrodi: „Von der Aechtheit der Apokalypse“
(= Kritische Geschichte des Chiliasmus, 1781 [1794]: II, 203-231) und Gottlob Christian
Storr: Neue Apologie der Offenbarung Johannis (1782).