Page 219 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die Krallen des Geistes 217
Auch Lessing veröffentlichte die „Fragmente“ in polemischer Absicht, um
innerhalb einer komplexen Kontroverse den Standpunkt eines illusionslosen Em
pirismus zu lancieren. Und in Tübingen reicherte sich unter der Anleitung
Schnurrers ein ganz spezifisches Geistesgemisch an, das die Erkenntnisse des
Reimarus ebenso gefiltert aufnahm wie die Lehrsätze der supranaturalistischen
Dogmatik oder des Katechismus.
Die Historizität biblischer Geschehnisse wie die der Auferstehungsgeschichte
(z. B. Apg 7, 51ff.; 13, 16-37) erschien Hölderlin aber selbst poetisch nicht mehr
zu retten; deshalb sparte er dieses Zentralgeschehen pietistischer und pneumati
scher Bibelfrömmigkeit in Tatmos’ aus. Für Reimarus ist das
Auferstehungsereignis einer der Hauptgegegenstände seiner empirischen Destruk
tion des Christentums, vgl. „Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger“, Reimarus 1993
[1778]: §§ 33-35. Auch für Hegel ist die Auferstehung Jesu „als Begebenheit“ nur
noch Gegenstand rationalistischer (und damit historisierender) Betrachtung. Für
sein ästhetisches Bild und geschichtsphilosophisches Modell vom Christentum in
teressieren Hegel dagegen nur die pneumatischen Aspekte der Vorstellung vom
„Auferstandenen“, nicht die faktischen.203
Aber Hölderlin relativiert eine ungebrochen pneumatische Lesart von
‘Patmos’, indem er die Auferstehungsgeschichte, das zentrale pneumatische Ereig
nis schlechthin, in der Hymne ausläßt. Mit dem Worflergleichnis (Mt 3, 12ff.)
dagegen betont er die Dialektik von Pneumatik und Apokalyptik (‘Patmos’ I,
VV. 152-161):
Es ist der Wurf des Säemanns, wenn er faßt
Mit der Schaufel den Weizen,
Und wirft, dem Klaren zu, ihn schwingend über die Tenne.
Ihm fällt die Schale vor den Füßen, aber 155
Ans Ende kommet das Korn,
Und nicht ein Übel ists, wenn einiges
Verloren gehet und von der Rede
Verhallet der lebendige Laut,
Denn göttliches Werk auch gleichet dem unsern, 160
Nicht alles will der Höchste zumal.
In der Metaphorik von „Sämann“, „Worfschaufel“ und „Korn“ überblendet
Hölderlin die pneumatischen Implikationen von Korn, Hülse und Halm bei
Johannes und Paulus und verknüpft sie mit der apokalyptischen Bedeutung des
203 „Die Betrachtung der Auferstehung des Jesus als einer Begebenheit ist der Gesichtspunkt
des Geschichtsforschers, der mit der Religion nichts zu tun hat; der Glaube oder Unglau
ben an dieselbe, als bloße Wirklichkeit ohne das Interesse der Religion, ist eine Sache des
Verstandes, dessen Wirksamkeit, Fixierung der Objektivität gerade der Tod der Religion
ist und auf welchem sich zu berufen von der Religion abstrahieren muß.“ (Hegel 1986
[1798-1800]: 408f.)