Page 220 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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218             IV. K apitel:  Ikarus,  C hristus und Johannes

          Worflergleichnisses  im  Alten  Testament  bzw.  bei  Matthäus  (vgl.  Js 30, 24,  Jer
          4,  11;  15, 7; 51, 2; Mt 3,  12).
              Bei  Lukas  (8,  4-15)  gibt  es  sogar  eine  pneumatische  Entsprechung  für  den
          apokalyptischen  „Sämann“,  der  die  endzeitliche  Verwerfung  parabolisch  verkör­
          pert:  „Der Same  ist  das  Wort  Gottes“,  erläutert Jesus  im  Gleichnis vom  Sämann
          (vgl.  Lk  8,  11);  nur  diejenigen  Körner  können  gedeihen,  die  auf fruchtbaren  Bo­
          den  fallen.  Johannes  erhebt  dagegen  das  „Weizenkorn“  zum  Bild  für  die
          „Verherrlichung“  Jesu,  der  im  Vater  aufgeht  wie  das  Korn  in  der  Frucht  (vgl.
          Jh 12, 24).  Paulus  schließlich  bringt  das  Bild  von  Korn  und  Keim  an  zentraler
          Stelle seiner Lehre von den zwei Leibern: der „irdische Leib“  (das Korn)  muß ver­
          gehen, um im Halm des „himmlischen Leibes“ aufzuerstehen (1 Kor 15, 35-49).
              Das Worflergleichnis steht in einem weiteren,  eindeutig apokalyptischen Zu­
          sammenhang  (vgl.  Mt 3,  1-12)  und  führt  unmittelbar  zur  Figur  Johannes  des
          Täufers, der in der Wüste von Judäa die „Nähe“ des Gottesreichs predigt  (Mt 3, 2).
          Die  bäuerliche  Bildlichkeit  wendet  der  Täufer  vehement  ins  Apokalyptische,
          wenn  er  die  Sündigen  mahnt:  „Seht  zu,  bringt  rechtschaffene  Frucht der Buße!“
          (Mt 3, 8).
              Liest  man  ‘Patmos’  vor  diesem  Hintergrund,  muß  die  geistig-pneumatische
          Interpretation nicht nur um eine mythische Schicht, sondern auch um einen poli­
          tischen  Aspekt  erweitert  werden.  Damit  erweitert  die  Reflexion  von  Hölderlins
          messianischer  Mythogenese  den  pneumatisch-pietistischen  Horizont  der Hymne
          und  bewahrt  sie  vor  einer  völligen  Säkularisierung  und  Vereinnahmung  für  die
          Geschichtsphilosophie Hegels,  die im wesentlichen  erst viel  später entstanden ist.
          Der pneumatische  Horizont von  Pietismus und Chiliasmus,  den Jochen Schmidt
          für den Rezeptions- und Produktionskontext von ‘Patmos’ skizziert, soll dadurch
          keinesfalls verdunkelt  werden  (vgl.  Schmidt  1990:  185ff.).  Das Politische der mes-
          sianischen  Mythogenese  durchzieht  das  Gedicht  jedoch  vom  Leittopos  der
          imaginären Flugreise und dem Adlermotiv bis in die verkürzten Anspielungen der
          späteren Fassungen,  wie das Bild der „Drachenzähne“  gezeigt  hat.  Noch die  haar­
          feinste  Verästelung  von  Metaphorik  und  Topik  folgt  konsequent  der
          beschriebenen  Doppeltypologie.  Das  einzelne  Wort  ist  letzte  Stufe  der  Verdich­
          tung  dieses  Verfahrens.  Die  mythische  Maske  verleiht  dabei  der  messianischen
          Idee  erst  den  „Biß“  der  Körperlichkeit.  In  Hölderlins  mythomessianischen  Figu­
          ren zeigen sich die Krallen des Geistes.
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