Page 221 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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V.  Der Heros als Messias


                1. D er „Dulder Ulyß": individuelle und universelle Eschatologie
       Hat die Johannesgestalt Hölderlins späte proteische  Heldenkonzeption veranschau­
       licht,  soll  nun  ein  weiteres  Beispiel  für  diesen  Heldentypus  interessieren,  der  die
       poetische Verschmelzung von Heros- und Messiasvorstellung schon sehr früh vor
       Augen  führt.  Die  Rede  ist  von  Hyperions  Vergleich  der  „deutschen  Musenjüng­
       linge“  mit  dem  „Dulder Ulyß“,  der in Bettlersgestalt,  ein verkannter  „Fremdling
       im  eigenen  Land“,  auf  die  reinigende  Tat  sinnt  (KHAII:  170,  ZZ.  18-33).
       Hölderlin  spielt  dabei  indirekt  auf die  berühmte Ithaka-Episode  aus der  Odyssee
       an,  da der vielgewanderte Heimkehrer Frau und Hof in der Hand der Freier vor­

       findet  (Odyssee XVI-XXII).  Die  Messianität  der  odysseischen  „Musenjünglinge“
       erschließt sich erst über den politischen Subtext des Vergleichs, den die Rückkehr
       des Helden mythologisch kodiert.
           Eine Fülle von Motiven  und Topoi,  die  sich überschneiden  und einander in
       Bedeutungsresonanz  versetzen,  rückt  dabei  ins  Blickfeld.  Bereits  Hyperions
       Selbstbilder  in  der  Scheltrede  reichen  vom  Motiv  des  „Heimkehrers“  über  den

       Topos vom Fremdling im eigenen Land bis zu Mythisierungen  wie  „heimatloser]
       blindfer]  Oedipus“  (168,  Z. 3).  Auch  die  Adressaten  der  Schelte  müssen  sich  ein
       buntes  Gemisch  von  Schmähungen  („Wilde“,  169,  Z.  19;  „Barbaren“,  168,
       ZZ. 8ff.;  „Stümper“,  ebd.  Z.  35),  aber  auch  mythische  Stilisierungen  („Dulder
       Ulyß“,  „Titanen“,  „Proteusse“,  170,  ZZ. 22  und  31)  gefallen  lassen.  Dieses  Bild-
       und Mythengeflecht  gilt  es  im  folgenden  freizulegen,  wobei  ich vor  allem  zeigen
       möchte,  wie  das  Odysseusbild  zwischen  resignativer  und  aktivischer  Bedeutung
       schwankt. Die Identifikationsfigur vom  „duldenden“ und „reinigenden“  Odysseus
       erzeugt  eine  intrikate Spannung von ästhetischer und politischer Eschatologie,  wie
       ein Blick  auf die Chiron-Ode zeigen wird.  Dafür ist  wichtig,  daß  das  sprechende
       Ich der Scheltrede an dieser Odysseus-Identifikation teilhat. Hyperion wendet das
       Mythenbild  kritisch  auf  die  deutschen Jünglinge  an;  er  entwirft  darin  aber  indi­
        rekt  ein  positives  messianisches  Gegenbild  von  Bellarmin  und  sich  selbst.  Der
        Ausdruck  „Dulder Ulyß“  wird darüber hinaus erst  in  seiner ganzen Tiefe faßbar,
        wenn  man  zeitgenössische Denkfiguren  interpoliert:  die adjektivische Apposition
        „herrlicher Dulder Odysseus“ aus dem christlichem Horizont bei Johann Heinrich
        Voss  und  Schillers  mythischen  Entwurf  einer  heimkehrenden  Jünglingsgestalt
        (Orest-Anspielung im Neunten Brief der Ästhetischen Erziehung).
           Zunächst  ein  Rückblick:  Hyperion  kommt  unter die Deutschen - der Grie­
        che,  wohlgemerkt,  besucht  ein  fremdes  Land.  Doch  im  Briefkontakt  mit
        Bellarmin,  der  als  Figur  nie  auftritt,  manifestiert  sich  eine  doppelte  Ebene  im
        Maskenspiel  Hölderlins  mit  der Identität  des  Griechenjünglings  und  seines Brief­
        partners.204  Der  physisch  nicht  gegenwärtige  gräkophile  „Freund“  Bellarmin



         204  Das  konsequente  Spiel  eines  aufgeklärten  und  kulturkritischen Verfassers  mit  verschiede­
           nen  Masken  ist  auch  für den Hyperion charakteristisch.  Hölderlins  Briefroman  ist  damit
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