Page 222 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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220 V. K apitel: D er H eros als M essias
erscheint als ein alter ego205 des nach Deutschland reisenden germanophoben
Hyperion, der auf die Deutschen schimpft. Am Schluß des Briefes wird diese
zweite Stimme des sprechenden Ich benannt: „Ich sprach in deinem Namen auch ,
beendet Hyperion seinen Brief an den deutschen Freund (KHA II: 171,
Z. 30). Damit wird die Komplementarität dieser Paarung offenbar: Hyperion, der
Grieche, ist die Konstruktion eines bellarminischen Deutschen, ein Wunsch-Ich
Hölderlins. In der Gestalt Hyperions fingiert Hölderlin seine eigene Heimkehr,
die die Wucht und Zielrichtung seiner Schelte erst motiviert. Hölderlin zerlegt
sein Erzähler-Ich quasi in eine sprechende (Hyperion) und eine rezeptive Instanz
im Hintergrund (Bellarmin). Damit hat auch der Erzähler teil an der
perspektivischen Verfremdung. Das Heimkehrermotiv ist im übrigen auch für die
anderen literarischen Fremdlingsgestalten in der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts wichtig (vgl. Frenzei 31988: 328-342).
So zieht z. B. auch Weither eine Parallele zu „Ulyß“, als er an den Ort seiner
Kindheit und Schulzeit zurückkehrt (HA VI: 73); allerdings steht der Heros
Homers hier noch nicht für Verkanntheit und Entfremdung, sondern im
Gegenteil für Werthers Sehnsucht, wie einer der „kindlichen]“ „Altväter“ heim
zukehren. Odysseus ist Sinnbild für den idealischen und nicht-entfremdeten
Wanderer im Einklang mit Natur und Gesellschaft. Für Werthers Fremdlings
schicksal dient der homerische Held geradezu als Kontrastfolie. Auch für Anton
Reiser ist die Rückkehr des Odysseus das Inbild einer erfolgreichen Selbstwerdung
und Bildung (vgl. Moritz 1981: 317), die er mit seinem Schicksal als Ausgesto
ßener und Zukurzgekommener schmerzlich verfehlt. So imaginiert Reiser seine
Ankunft in der fremden Stadt Hildesheim gewissermaßen als „Parodie“ einer
Heimkehr-, Denn zum ersten Mal fühlt er sich heimisch, und zwar ausgerechnet
aufgrund seiner Anlage und einiger Passagen wie der Scheltrede mit den Briefromanen im
Stile von Montesquieus Lettres persanes (1721) verwandt. Diese satirische Untergruppe des
Briefroman-Genres fand von der Mitte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts viele deutsche
Nachahmer (z. B. David Faßmann: Der, A uf Ordre und Kosten Seines Kaysers, reisende
Chineser [...], Leipzig 1721-23; Johann Pezzl: Marokkanische Briefe, Frankfurt und Leipzig
[vielmehr Wien] 1784; oder Friedrich Wilhelm Meyern: Abdul Erzerum's neue persische
Briefe, Wien und Leipzig 1787; vgl. Weißhaupt 1979:1, 149-159).
Die Verfasser dieser Briefromane äußerten ihre Kritik durch die Maske eines exoti
schen Fremden, der Europa beschreibt. Der Besucher entstammt entweder einer
Flochkultur (Perser, Chinese), oder er ist ein „Wilder“ (Hottentotte, Afrikaner).
Hölderlins Hyperion polemisiert gegen die Deutschen aus der Sicht eines Neugriechen,
was das Schema der Masken um einen wichtigen Typ ergänzt: da Hyperion sowohl zeitge
nössisch (Freiheitskampf) als auch zeitlos charakterisiert ist (sein mythischer Name),
verkörpert er eine Art „Fremdling in der Zeit“, der die deutsche (und griechische) Gegen
wart um 1770 immer auch aus der Perspektive der klassischen Vergangenheit beleuchtet
(vgl. Wiedemann/Charlier 1998: 563ff.).
205 Vgl. das berühmte Diktum des Aristoteles: „eoxt yap 6 <piAoq &XXoq aütöq.“ Übs.: „der
Freund nämlich ist ein anderes, zweites Selbst [des Menschen]“ (Nikomachische Ethik 1166a
31).