Page 223 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Individuelle und universelle Eschatologie      221


       angesichts  der  völligen  Gleichgültigkeit  der  Hildesheimer  ihm  gegenüber.  Dies
       nur deswegen, weil der traumatisierte Fremdling Reiser in der fremden Stadt nicht
       mal  mehr  als  „fremd“  auffällt,  was  ihm ein  wohliges  (freilich  paradoxes)  Gefühl
       der Geborgenheit vermittelt (vgl. Moritz 1981: 315).
           Erst  Hölderlin  radikalisiert  den  konventionellen  odysseischen  Heimkehrer
       zur kunstvoll aufgeladenen Entfremdungsfigur des „Dulders Ulyß“. Hyperion be­
       tont eindeutig die Unerkanntheit und Fremdheit  des homerischen Helden,  wenn
       er die Position der kleinen Schar der deutschen  „Musenjünglinge“  mit der Bettler-
       und Fremdlingsrolle des Odysseus gleichsetzt:
          Es ist auch herzzerreißend , wenn man eure Dichter, eure Künstler sieht, und alle, die
          den Genius noch achten, die das Schöne lieben und es pflegen. Die Guten! Sie leben in
          der Welt, wie Fremdlinge im eigenen Hause, sie sind so recht, wie der Dulder Ulyß, da
          er in Bettlersgestalt an seiner Türe saß, indes die unverschämten Freier im Saale lärm­
          ten  und  fragten,  wer  hat  uns  den  Landläufer  gebracht?  Voll  Lieb’  und  Geist  und
          Hoffnung wachsen seine Musenjünglinge dem deutschen Volk’ heran; du siehst sie sie­
          ben Jahre später, und sie wandeln, wie die Schatten, still und kalt, sind, wie ein Boden,
          den der Feind  mit  Salz  besäete,  daß  er nimmer  einen  Grashalm treibt;  und  wenn  sie
          sprechen, wehe dem!  der sie  versteht, der  in der  stürmenden Titanenkraft,  wie  in ih­
          ren  Proteuskünsten  den  Verzweiflungskampf  nur  sieht,  den  ihr  gestörter  schöner
          Geist mit den Barbaren kämpft, mit denen er zu tun hat.  (KH AII:  170, ZZ.  18-33)
       Hier sind drei Ebenen der polemischen Vergleichskonstruktion zu unterscheiden:
       Da  ist  zum  einen  die  Ebene  des  briefeschreibenden  Hyperion,  der  zu  Bellarmin
       spricht, und zwar  aus  zeitlicher  und reflexiver Distanz.  Die  zweite Ebene  bilden
       die deutschen „Musenjünglinge“  (170, ZZ. 26f.)  als Adressaten der Polemik im be­
       sonderen;  in  einem  allgemeineren  Sinne sind zum  dritten  die Deutschen  das  Ziel
       der Schelte.
          Ich  bleibe  zunächst  auf  der  ersten  Ebene:  Wenn  Hyperion  sich  selbst  als
       „Fremdling“  (171,  Z. 25)  und  „Bettler“  (ebd.  Z. 27)  bezeichnet,  so  identifiziert  er
       sich  damit  ebenfalls  mit  den  vorgebrachten  Mythisierungen  („Ulyß“,  „Titanen“,
       „Proteus“)  und zählt sich mit zu der Elite von „Musenjünglingen“  (170, ZZ. 26f.).
       Durch die Erzählperspektive distanziert sich Hyperion jedoch von den geschmäh­
       ten Jünglingen und spricht von sich als einem „Bettler meiner Art“  (KHA II:  171,
       Z. 27).  Damit  impliziert  Hyperion,  indem, er  sich  von  den  jungen  deutschen
                        ,
       „Titanen“ distanziert eine Annäherung  an Bellarmin, in dessen Namen  er mit  sei­
       ner polemischen  Kritik  ebenfalls zu  sprechen  beansprucht.  Das  legt  nahe,  daß  in
       der Geistgemeinschaft  Hyperions  mit  Bellarmin  der  messianische  Anspruch  von
       „Liebe“  (171,  Z.  11),  „Schönheit“  (ebd.),  „allgemeinem  Geist“  (ebd.  Z.  13)  und
       „Begeisterung“  (ebd.  Z.  15)  noch  wach  und  intakt  ist.  Dies  umso  mehr,  als
       Hölderlin  mit  seiner  Namensgebung  in  den  beiden  Briefpartnern  ein  ikarisch-

       herakleisches Paar vorgegeben  hat:  der geistig  beflügelte  „Titanensohn“  Hyperion
       und der heldische  Ahnherr germanischer Kampfkraft,  Bellarmin[ius]  (vgl. Jochen
       Schmidt,  KHA II: 968f.).  Indem  nun  Hyperion  sein  „Bettlerdasein“  (seine
       Existenz  als  griechischer,  und  damit  ethnisch  „echter“  Fremder)  von  der
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