Page 224 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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          „Bettlersgestalt“  der  deutschen  Intellektuellen  unterscheidet  (die  zu  paradoxen
          „Fremdlingen  im  eigenen  Land“  geworden  sind),  streicht  er  seine  eigene prophe­
          tische  Funktion  heraus  und  verwahrt  sich  mit  der  Schlußformel  des  Briefes
          (gleichsam  als  aside zu  Bellarmin)  vor  der  Resignation,  der  die  Musenjünglinge

          Hyperion  zufolge nachgegeben  haben.  Deren heroische Funktion sieht Hyperion
          denn  auch  tatsächlich  durch  titanische  Hybris  gefährdet  oder  durch  proteische
          Selbstverwandlungskunst verdeckt bzw. entstellt.
              Liest  man ganz genau, so fallen immer wieder Hyperions Vorbehaltsformeln
          ins Auge, die den messianischen Anspruch für die Jünglinge zwar verloren geben,
          aber für die Reflexionsebene zwischen Hyperion und Bellarmin zu retten suchen:
          „[...] wehe dem\  der sie versteht, der in der stürmenden Titanenkraft,  wie in ihren

          Proteuskünsten  den  Verzweiflungskampf  nur sieht,  den  ihr  gestörter  schöner
          Geist  mit  den Barbaren  kämpft  [...]“  (170,  ZZ. 30-33).  Die  Hervorhebungen  ma­
          chen  es  deutlich:  Wer  im  Scheitern  der  deutschen  Intellektuellen  „nur“  den
          „Verzweiflungskampf“  sieht,  der ist tatsächlich verloren  und kommt  auch seiner­
          seits nicht mehr über träge Verzweiflung hinaus. Spekulativ ausgedeutet, kann die
          Vorbehaltsformel des „nur“ zweierlei heißen:
              1.  Nur wer die deutschen Jünglinge aus eigener utopischer Sensibilität je bes­
                 ser versteht, der muß den Schmerz, das „Weh(e)“ desto stärker verspüren.

              2.  Nur derjenige,  der  in  der  messianischen  Sendung  der  kleinen  intellek­

                 tuellen  Elite  der  Deutschen  einen  aussichtslosen  „Verzweiflungskampf“
                 sieht, ist wirklich endgültig verloren! Nur dem gilt das legendäre „Wehe!“

                 des endgültigen  Sieges  der  „Barbaren“  über  die  wenigen,  die  einen  höhe­
                 ren Anspruch noch aufrecht erhalten.
          Und wie großartig läßt Hölderlin seine Aussage hier zwischen  buchstäblicher Re­
          signation  und  leiser  Erlösungsgewißheit  changieren!  Das  „vae  victis  [esse]!“
          kündete  einst  in  der Tat  von  einem  großen  Sieg der  „Barbaren“  über die Römer
          im Jahre 387 v. Chr.,  als die römischen Legionen von den Kelten  an der Allia ge­
          schlagen wurden und selbst Rom in Barbarenhand fiel (vgl. Livius, Ab urbe condita
          V 48, 9). In diesem Sinne ist auch Hyperions biblisch-antikes Bild von der völligen
          militärischen Niederlage  zu verstehen:  „[...] du  siehst  sie  sieben Jahre später,  und
          sie  wandeln,  wie  die Schatten,  still  und  kalt,  sind,  wie  ein  Boden,  den  der Feind

          mit Salz besäete, daß er nimmermehr einen Grashalm treibt [...]“  (170,  ZZ:  26-29)
          Hölderlin  sagt  damit  durch  Hyperion:  Wehe  denen,  die  sich  wie  die  deutschen
          „Dichter und Künstler“  (170,  ZZ.  18f.)  der Hoffnungslosigkeit  und Passivität  an­
          heimgeben.  Und  ein  „dreifach  wehe  dem!“  (171,  Z. 26)  den  messianisch
          Inspirierten  und  Standhaften  wie  Hyperion  und  Bellarmin,  wenn  sie  dem  nach­
          geben.  Was  sie  keineswegs  tun!  Denn  Hyperion  polemisiert  ja  aktiv  gegen  die
          Deutschen  und spricht  bis  zuletzt  auch  im  Namen  des  „bellarminischen“  Restes
          der deutschen Intelligenz,  der freilich  in  epischer Hinsicht  im  Roman unsichtbar
          bleibt. Dennoch entschließt sich Hyperion am Ende nicht für eine resignative und
          private  Existenz  in  der  Liebesbeziehung  mit  Diotima,  sondern  wählt  die  Ver-
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