Page 225 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Individuelle und universelle Eschatologie       223

       mittlerrolle  als  Eremit  und Briefeschreiber,  der  mit  den  deutschen  Verhältnissen
       über Bellarmin in Kontakt bleibt.
          Die Drohung des „wehe!“ lenkt Hölderlin also an seiner ikarisch-herakleischen
       Figurenpaarung vorbei, um mit ihr auf den Leser abzuzielen, der damit vor einem
       resignativen Sichabfinden mit den deutschen Verhältnissen  gewarnt wird  (vgl.  Ti­
      telwahl  für  die  Dioskuren-Ode  ‘An  Eduard’).206  Wer  sich  nur  in  einem
       „Verzweiflungskampf“  sieht,  der ist  durch  die  „Barbaren“  bereits  besiegt  wie  die
       Römer  durch  die  Kelten:  vae  victisl  Nicht  aber  so  mit  den  „Fremdlingen“  und
       „Bettlern“  anderer, das  heißt:  von  Hyperions  (und  Bellarmins)  Art.207  Denn  die

      wissen  um  die Möglichkeit  einer Befreiung und  Erlösung von  bornierter Boden­
      ständigkeit  (der  „glebae  addicti“,  der  „Schollengebundenen“,  KHA I: 379,  Z. 34)
      und  von   autokratischer  Fürstenherrlichkeit   durch  die   „Helden“   der
      „Begeisterung“ :

          O  Bellarmin!  wo  ein  Volk  das  Schöne  liebt,  wo  es  den  Genius  in  seinen  Künstlern
          ehrt,  da  weht,  wie  Lebensluft,  ein  allgemeiner  Geist,  da  öffnet  sich  der  scheue  Sinn,
          der Eigendünkel schmilzt, und fromm und groß sind alle Herzen und Helden gebiert
          die Begeisterung.  (KHA II:  171, ZZ.  11-15)
      Hyperion  und Bellarmin  wissen  um  die  Unverbrüchlichkeit  ihres  messianischen
      Anspruchs,  der  auf jedes  Volk  übertragbar ist  und in  ihnen weiterlebt,  und zwar
      ungeachtet ethnischer, nationaler oder politischer Gegebenheiten:
          Die  Heimat  aller  Menschen  ist  bei  solchem  Volk’  und  gerne  mag  der  Fremde  sich
          verweilen.  (KHA II:  171, ZZ.  15-17)

      Hyperions  Zerrissenheitsklage  über  die  Deutschen  ist  also  keine  endgültige  Ab­
      sage  an  die  messianischen  Gewißheiten  von  einst;  sie  verheißt  nur
      Neuorientierung auf einen neuen Ort, und sei es ein Nicht-Ort, ein utopos:

          Wo  aber  so  beleidigt  wird  die  göttliche  Natur  und  ihre  Künstler,  ach!  da  ist  des  Le­
          bens beste Lust hinweg, und jeder andre Stern ist besser, denn die Erde.  (KHA II:  171,
          ZZ.  17-19)






       206  Hölderlin  zog  für  die  Ode  zunächst  folgende  Titel  in  Erwägung:  „Bundestreue/An
          Sinklair“; „An Bellarmin“, „An Arminius“, „ An Philokles“ (KHA I: 760f.)
       207  Die Binnenexklusion  „Barbaren“ ist hochinteressant:  Gemäß dem Modell der drei  Ebenen
          unterscheidet   Hölderlin   zwischen   folgenden   polemischen   Instanzen:
          1. Hyperion/Bellarmin  als  standhaften  Intellektuellen;  2. den  „Musenjünglingen“  als  ge­
          scheiterten  Revolutionären;  und  3. den  übrigen  Deutschen,  die  stur  an  jeglicher  Chance
          vorbeileben,  ihren  Eigendünkel  zu  überwinden.  Dabei  entwirft  Hyperion  (1. Ebene)  das
          Szenario  eines  dramatischen  Kampfes  der wenigen  einzelnen  (Jünglinge)  gegen  die  vielen
          „Barbaren“  (die  gewöhnlichen  Deutschen).  Gleichzeitig  wird  der  Fremdheitstopos  aber
          auch invers auf die Jünglinge  („Fremdlinge im eigenen Hause“) und Hyperion selbst über­
          tragen („Fremdling [sjeiner Art“, das heißt Grieche).
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