Page 226 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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          Nicht  die  Absage  an  die  messianische  Idee,  sondern  die  Spiritualisierung  und
          Pneumatisierung  sind  also  die  radikalen  Konsequenzen,  die  Hyperion  erwägt.
          Trotzdem:  Bis  zuletzt  bleibt  ein  geschichtsimmanenter  Rest  messianischen  Den­
          kens  erhalten;  denn  Hyperion  diagnostiziert  die  Misere  der  Deutschen  eher  in
          einem dilemmatischen als in einem geschichtlich pessimistischen Sinne: Friede, Ver­


          söhnung  und  Gemeingeist  sind  (zumindest  historisch  und  mythisch  in  der
          Vergangenheit  des  Goldenen  Zeitalters)  greif-  und  vorstellbar;  die  Deutschen  le­
          ben  nur  in  erster  Linie  daran  vorbei-,  daß  Messianität  auf der  Erde  und  in  der
          Geschichte  nicht  möglich  wären  -  davon  bei  Hyperion  keine  Silbe  (vgl.  auch
          Js 11, 6ff.):
              [das „menschlich Wesen“ der Deutschen, R.  C.] bleibt gesetzt, und wenn es feiert und
              wenn es liebt und wenn es betet und selber, wenn des Frühlings holdes Fest, wenn die
              Versöhnungszeit  der Welt  die  Sorgen  alle löst,  und  Unschuld  zaubert  in ein  schuldig
              Herz,  wenn von  der  Sonne  warmem Strahle  berauscht,  der  Sklave  seine  Ketten  froh
              vergißt  und von der gottbeseelten Luft besänftiget, die Menschenfeinde friedlich,  wie
              die  Kinder,  sind  -  wenn  selbst  die  Raupe  sich  beflügelt  und  die  Biene  schwärmt,  so
              bleibt  der  Deutsche  doch  in  seinem Fach’  und  kümmert  sich  nicht  viel  ums  Wetter!
              (KHA II:  169, ZZ. 24-33)
          Das deutsche Problem  ist  also eher das Verschlafen der geschichtlichen Wetterpe­
          rioden,  ein  Bild,  das  die  messianische  Erziehungs-  und  Erweckungsfunktion  von
          Hyperion oder Bellarmin nur umso notwendiger und sinnvoller erscheinen läßt.
              Und in  diesem Sinne  scheint  auch  die odysseische Stilisierung der deutschen
          Musenjünglinge  mit  einer  verdeckten  Selbstidentifikation  Hyperions  (und  indi­
          rekt  auch Bellarmins)  als  „Dulder Ulyß“ zusammenzustimmen.  Die Bezichtigung
          der Jünglinge als „Fremdlinge im eigenen Hause“ (170, 21) spricht explizit nur von
          den duldenden  Zügen  des Heros,  wie seinem  „Landläufer[tum]“  (170,  Z.  24)  und
          seiner  „Bettlergestalt“  (170,  Z.  22).  Deutet  man  die  Odysseus-Episode  aber  vor
          dem Hintergrund  der Tatsache,  daß Hyperion  und  Bellarmin  eine  Art  messiani-
          sches  Korrektiv  der  gescheiterten  Musenjünglinge  verkörpern,  scheint  auch  die
          rächende  und  reinigende,  die  triumphierende  Rolle  des  „herrlichen  Dulders
          Odysseus“  (Voss)  angedeutet.208  Auch  Alabanda  hatte  Hyperion  zuvor  einen
          „herrlich[en] Fremdling“  genannt,  um  das Göttergleiche seines  heroischen Freun­
          des zu feiern  (KHA  II: 32, Z.  19).
              Die Fremdlingsrolle des „Göttergleichen“ und „Listigen“  wird von Hyperion
          damit  zunächst vergrößert und isoliert, sein  Getriebensein,  seine Rastlosigkeit be­

          tont;  das  aktive  Element wird  hingegegen  zurückgedrängt  -  der  empfindsame
          deutsche Jüngling erscheint als zur Passivität  verdammter,  duldender Ulyß, der in
          der  bürgerlich  deutschen  Misere  von  Hofmeisterkarriere,  Bürgersinn,  Partikula­
          rismus,  Theatermanie  und  gesellschaftlicher  Nichtanerkennung  ein  entfremdetes


           208  Voss übersetzt „Ihm antwortete drauf der herrliche Dulder Odysseus“ (Odyssee XVI, 90) für

              „töv  8’  ohne  ttpooeeute  noXmXaq Stoq  ’OS-uaoEÜq“  (wörtlich  steht  bei  Homer:  „Ihm
              erwidernd sagte der Dulder, der hehre Odysseus [...]“, vgl. Weiher 1990: 434f.).
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