Page 227 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Individuelle und universelle Eschatologie      225



       Dasein fristet  und vielleicht  noch  im Sinne  der Odyssee eine Rückkehr aus dieser
       Fremde erhofft,  wo im  deutschen  Haus oder Ithaka längst  die eitlen Freier - also
       Fürstenwillkür,  Zensur,  Provinzialismus,  Banausentum  -  ungestört  lärmen  dür­

       fen.  Aber  die  Verschiebung  vom  aktiven Kriegshelden  zum  still  leidenden
       Intellektuellen  beschreibt  noch  nicht  alle  Schichten  des  mythischen  Vergleichs.
       Die Musenjünglinge mögen zur Zeit die Dulderrolle innehaben; aber das Mythen­
       bild  hat  (aus  dem  Munde  Hyperions  zu  Bellarmin  gesprochen)  einen  längeren
       Atem:  der Dulder ist ohne den Reiniger nicht zu denken, zumindest in der Logik
       des Mythos.  Für die Reflexions- und Realitätsebene von Hyperion und Bellarmin
       deutet Hölderlin dies an. Mit dem Passivitätsverdikt über die Künstler- und Intel­
       lektuellenfigur geht bei Hölderlin damit eine höhere Aktivierung einher.
           Indem  Hölderlin  die  Hoffnung  auf  die  Befreiung  von  der  Fremdherrschaft
       der Freier zumindest vertagend andeutet, erwacht der politisch toterklärte  Held im
       mythischen  Gewand des wartenden „Dulders Ulyß“ zu neuem, eschatologisch mo­
       tiviertem  Leben:  Der  passive  Dichterjüngling  mag  zum  Nichtstun  im  Hier  und
       Heute verdammt  sein;  aber er wird dennoch um so tatenvoller und konsequenter
       zurückkehren - im Sinne eines messianisch  tätigen Befreiers,  der mit der Borniert­
       heit und Barbarei der Freier ein Ende machen wird.
           Die von Voss  gewählte  Apposition  „herrlicher Dulder“  ist  nur eines  der At­
       tribute  und  Wesenszüge  des  Odysseus  der  Ithaka-Episode,  die  eine  mögliche
       Stilisierung des Helden zum  Befreier und Erlöser  im Bedeutungshof des  Namens
       im  18.  Jahrhundert  begünstigen.  Auch  die  „Bettlersgestalt“  des  „göttergleichen“
       Odysseus und die  Tatsache,  daß er neben  Orpheus, Herakles und Aeneas  zu den
       einzigen Sterblichen gehört,  die je in die Unterwelt gelangten, um dort die Toten
       zu sehen  oder gar zu  erwecken,  prädestinieren  bestimmte Wesenszüge  seiner Ge­
       stalt,  von  einem  theologisch  inspirierten  Dichter  messianisch  überhöht  zu
       werden.  Man  denke  in  diesem  Zusammenhang  an  Hölderlins  Evokation  des
       „Syriers“  (Christus)  als  „Fackelschwinger“,  die  möglicherweise  auf die  apokryphe
        „Höllenfahrt“  Christi anspielt  (Evangelium des Nikodemus, Nk 20-23):  „Aber in­
       dessen  kommt  als  Fackelschwinger  des  Höchsten  /   Sohn,  der  Syrier,  unter  die
       Schatten herab.“  (‘Brot und Wein’, V.  155f.)
           Das Leitbild der modernen Mythenrezeption: der an den Mast seiner Galeere
        gefesselte  Held,  der  seine  Lüste  und Triebe  in  ebenso  listiger  Weise  unterdrückt
       wie er Kriegskonflikte rationalisiert und seine Vernunft in ganz modernem Sinne
        instrumentalisiert,  ähnelt  ebenfalls  wie  von  ferne  einer theologischen  Denkfigur
        (vgl. Horkheimer/Adorno  1988 [1947]: 50-87). Askese und Triebverzicht, wie ihn
        das paulinische Christentum postuliert, rücken so ins Blickfeld einer Odysseus-In­
       terpretation,  die in Erwägung zieht,  daß  sich im  homerischen Helden bestimmte
        messianische Vorstellungen im nachhinein verdichtet  haben könnten  (vgl. die Pa­
        rallelen zwischen den Herakles- und Christus-Viten bei Pfister 1937: 42-60).209



         209  Auch  andere  Elemente  der  homerischen  Ithaka-Episode  müßten  auf ihre  Ausdeutung  als
           unterschwellig  messianisch  aufladbare Merkmale  hin  untersucht  werden:  Odysseus’  Bett­
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