Page 238 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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          „traurigen“  und „blinden“  Schicksalsbegriff zu  korrigieren,  der die  moderne Sub­
          jektivität  nicht  mehr  trägt.  Der  messianischen  „Korrektur“  des  Tragischen
          entspricht  so  die mythische  Korrektur einer Vorstellung von  Heilsgeschichte und
          Wunderdogmatik,  die  immer mehr an  sinnlicher Anschaulichkeit verloren hatten
          und sich in rationalistischer Zweifelei zu verflüchtigen drohten.
              Während Hölderlin den Apokalyptiker Johannes in ‘Patmos’ in die pneuma­
          tische  Evangelisten-  und  die  apokalyptische  Täuferrolle  aufspaltet,  disponiert  er
          für  seine  Paulusparaphrase  anders.  Die  pneumatisch-apokalyptische  Wechsel­
          durchdringung  der  Paulusfigur  verschlüsselt  Hölderlin  „kentaurisch“  in  einer
          (lyrischen) Person. Chirons prophetische Gewißheit um die Rückkehr des Messias
          Herakles,  seine  antik-hesperische Zwiegestalt und seine paulinische Rhetorik sind
          Zeichen  dieser  Wechseldurchdringung  und  Verfremdung.  Die  vielschichtige  Ge­
          stalt des mythischen Pferdemenschen reflektiert auch die versuchte Identifizierung
          des lyrischen Ich mit Person  und Gedankenwelt  des Paulus.  Dabei verlängert  die
          dilemmatische  Psychologie  und  Theologie  des  Paulus  diesen  Widerspiegelungs­
          vorgang in zwei Richtungen:  auf das Vorbild Christus und auf Hölderlin selbst als
          empirische Person am Ausgang des  18. Jahrhunderts. Paulus reihte sich nämlich in
          eine  besondere  Nachfolge  Christi  ein,  die  das  visionäre  Berufungserlebnis  (im
          „Geiste“)  über  die  konkrete  Zeitzeugenschaft  stellen  mußte  (vgl.  Klausner  1950:
          442f.).  Dieses  prinzipielle  Dilemma  der  paulinischen  Situation  prägte  die  Para­
          doxie seiner Theologie. Das findet sich kunstvoll in der Perspektivik und Motivik
          der  Ode  gespiegelt.  Das  paulinische  Problem  ist  auch  ein  Problem  seines
          „Seelenverwandten“,  des  hesperischen  Dichters.  Man  denke  nur  an  Chirons  zen­
          trales Diktum

                         Wenn einer zweigestalt ist, und es
                          Kennet kein einziger nicht das Beste; (VV. 35f.)

          Die Verse paraphrasieren Phil  1, 9f.:
              Und ich bete  darum, daß eure Liebe immer noch reicher werde an Erkenntnis und al­
              ler  Erfahrung,  so.  daß  ihr  prüfen  könnt,  was  das  Beste  sei,  damit  ihr  lauter  und
              unanstößig seid für den Tag Christi, erfüllt mit Frucht  der Gerechtigkeit durch Jesus
              Christus zur Ehre und zum Lobe Gottes.
          Die  eschatologischen  und  apokalyptischen  Implikationen  des  paulinischen
           „Besten“  sind offenbar:  das  „Beste“ ist  das Wahre,  Höchste  und Letzte,  das escha-
           ton, das  sich  mit  göttlicher  Gewißheit  vollzieht.  Aus  dem  Munde  Chirons

          vernommen,  muß  man  dieses  „Beste“  als  Abstraktum  für  jene  messianische  In­
           stanz  verstehen,  die  den  alten  Schicksalsbegriff  von  Tragödie  und  Mythos  im
           Zeichen des ruachgeborenen Messias aufhebt. Schon grammatikalisch entzieht sich
           das Wort als Superlativ aller Komparation und Kommensurabilität. Es ist als bild­
           loser  und  abstrakter  Begriff  Platzhalter  für  den  Jüngsten  Tag,  den  radikalen
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