Page 235 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Paulus und Chiron 233
innere Sphäre. Der „Speer“ (samt Schild und Schwert), die der Waffenlehrer
Chiron auf vielen Bildern dem jungen Achill überreicht, verlagern das Stachelbild
vollends ins Heroische und Politische. Aus dem „Stachel“ des Seelenkampfs wird
der „Speer“ des apokalyptischen Endkampfs, aus dem proteischen Leiden Chirons
die herakleische Gewaltfähigkeit Achills.
Diese Wende vom Pneumatischen zum Apokalyptischen konterkariert die
komplementäre Verteilung der Bilder von Jugend und Alter. In der Nachthälfte
dominieren die Reminiszenzen an Chirons eigene Jugend. Not und Mangel stimu
lieren Erinnerung und Einbildungskraft. Anklänge in ‘Der blinde Sänger’ an
Jugendgedichte wie ‘Da ich ein Knabe war...’ („Wo bist du, Jugendliches!“, V. 1)
und das Bild der „Fittige des Himmels“ verstärken die melancholisch-nostalgische
Stimmung:
Und um die Wälder sah ich die Fittige
Des Himmels wandern, da ich ein Jüngling war;
(‘Der blinde Sänger’, VV. 17f.)
Die Nachtstrophen transponieren die Bilder von Frühe, Kindheit und Jugend
auch auf andere Ebenen: Für den jungen Chiron (das „Füllen“, V. 9) ist die Natur
noch ein paradiesischer „Garten“ (ebd.); gern gibt Chiron dem Apoll in Liebes-
dingen Rat: Pindars neunter Pythie zufolge konsultierte Apoll den Kentauren
wegen seiner Liebesaffären. Sein und Bewußtsein sind noch eins: ein durchaus
positiver Zug des mythischen Zustandes. Erst die Arbeit von „Zevs Knecht“
(V. 18), die Notwendigkeit von naturwissenschaftlicher Durchdringung und
Auflösung der Welt gefährdet Chirons mythische Seelenphysiognomie, zersetzt
die natürliche Harmonie von Körper und Geist (vgl. Schmidt 1978: 47f;
KHA I: 795-798; 802, Kommentar z. St. 314, 15).
Bei „der Sterne Kühle“ (V. 15) lernt Chiron das „Nennbare“ (V. 16) nicht nur
kennen, sondern auch fürchten: es entzaubert seine idyllische Existenz in Grotte,
Wald und Feld, zwischen wilden Kräutern und „weichem Wild“ (V. 6). Das Licht
der Aufklärung bringt das „Gift“ der Vergesellschaftung mit sich (V. 22), ein am
bivalenter Lernprozeß, den auch Hyperion unter seinem Lehrer Adamas
durchmachen muß.214
214 Der naturhafte Einheitszusammenhang löst sich in dem Moment auf, da ein Mensch zum
ersten Mal die Hilfe eines anderen benötigte, das Gleichgewicht der natürlichen Bedürfnis
losigkeit gestört ist (Apoll fragt Chiron in einer Liebesaffäre um Rat: „denn allzubereit fast
kamst du, / / So Füllen oder Garten dir labend ward, / Ratschlagend, Herzens wegen [...]“,
VV. 8-10; vgl. Hölderlins Übersetzung von Pindars neunter Pythischer Ode, KHA II: 752,
V. 45 - 753, V. 74).
Die Paradoxie dieses Zusammenhangs von Hilfeleistung und Gefährdung des Natur
zustandes ist ein Gedanke, der auf Rousseau zurückgeht (vgl. Link 1996: 71-84). In
Rousseaus „Deuxieme Discours“ (Discours sur l’origine et les fondements de l'inegalite parmi
leshommes, 1782 [1755]) ist der Schmerz des Menschen darüber, aus dem Naturzustand ver
trieben zu sein, ein „Stachel der Notwendigkeit“, der umgekehrt erst die Perfektibilität des