Page 234 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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232 V. K apitel: D er H eros als M essias
„gewaltig Feuer“ mutiert (V. 32). Zumindest das „Korn“ ist ein fester Bestandteil
der bäuerlichen Bilderwelt, die in den pneumatischen Texten dominiert (wie
„Halm“ und „Frucht“, vgl. 1 Kor 15, 36-38; 41).
Der individuelle „Schmerz“ Chirons (V. 34) verallgemeinert sich kosmisch
und politisch zum universellen „Echo“ seiner „Qual“ (V. 28). Chirons Misere, die
„Qual“ des prototypisch einzelnen, der an der „Nacht“ der Verhältnisse und der
„Blindheit“ der Geschichte leidet, wird „Echo“. Das stellvertretende Leiden wird
allgemein, es bleibt nicht bei einer individuellen Eschatologie. Das Jüngste Ge
richt wirkt universell auf alle Ordnungen, von der elementaren über die politische
auf die kosmische. Die private Gnosis kann die universale Apokalypsis nicht be
schwichtigen, wie es Origines und Augustinus mit ihrer Individualisierung der
Eschatologie durch „Pädagogie“ und „Seelenkampf“ anstrebten (Taubes 1991: 77-
82). Hölderlins Achillstrophe verlangt, als Verarbeitung und Überwindung der
origenistischen Begriffe von paideusis („Pädagogie“, vgl. Taubes 1991: 74) und pro-
noia (ebd.) gelesen zu werden. Diesen Aspekten entsprechen „Erziehung“ und
„Wahrsagung“ (‘Chiron’, V. 50).
Die Verschiebung im Gedichtverlauf sei fortgeführt: Aus der Abwesenheit
Christi und des Herakles wird der „einheimische]“ Messias als gedankliche Ge
wißheit, die ihr „Licht“ vorauswirft (VV. 2; 10). Die tragische Blindheit
verwandelt sich in prophetische Schau. Der Fokus des Gedichts wandert vom
Sprachlich-Geistigen im Bild des „Sängers“ (Erstfassung) zum Plastisch-Mythi
schen (Chiron) und Heroischen (Herakles, Achill).
Die Metamorphose des zentralen Stachelbildes spiegelt diese Entwicklung:
aus dem „Stachel“ des verinnerlichten Leidens (der nur den Einsamen peinigte)
werden die „Sporen“ des Heilands als Herrscherfigur (V. 44). Die „Stacheln“ an
den Stiefeln des Reiters verursachen wohldosierten und notwendigen „Schmerz“,
um das Gespann weiterzubringen.213
Die Sporen dämpfen damit den Stachel zum Regulativ einer Theodizee im
großartigen Bild von Wagen, Roß und Lenker. Außerdem fungieren die Sporen
als Herrschaftsinstrument und Heilsanreiz zwischen Gott und Mensch. Das Leid
erscheint damit in einem ersten Schritt veräußerlicht und objektiviert - im Ge
gensatz zur innerlich schwärenden Stachelwunde Chirons. Auf einer weiteren
Stufe verläßt das Motiv, transformiert zum „Speer“ (V. 50), die individuelle und
sich (auch als topische Vielzahl) für die hochgeschätzte Heilpflanze durch (vgl.
Marzeil 1943ff. II, Sp. 321-331).
213 Die „Sonnensporen“, da der „Irrsterrn des Tages“ als ein „Herrscher, mit Sporen“ ange
sprochen wird (‘Chiron’, VV. 44f.), meinen die Sonnenstrahlen, wenn man von einer
realistischen Motivierung ausgeht. Das fügt die Semantik von „Stachel“ und „Sporfe]n“ in
das Wortfeld von „Strahl“ und „Blitz“, die als Bilder der prophetischen Inspiration ausge
wiesen sind (z. B. in der Feiertagshymne). Auch „Des Vaters Strahl“ (‘Wie wenn am
Feiertage...’, VV. 47; 58 und 68), besitzt die Ambivalenz des Stachels: als Erkenntnisblitz
erhebt er den Auserwählten; als Donnerschlag vernichtet er die hybride Semele (ebd.
VV. 45-53), meisterhaft stilisiert im Oxymoron der „kühlenden Blitze“ (ebd. V. 3).