Page 236 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
P. 236
234 V. K apitel: D er H eros als M essias
Chiron ist zwar kein tragisch Blinder mehr, sondern schon ein messianisch
Sehender; aber er wird zuletzt vom tragischen Schicksalsgesetz verschlungen,
wenn er seine Unsterblichkeit gegen die Sterblichkeit des Prometheus tauscht (vgl.
Schwab 1986 [1838ff.]: I, 26; Pauly/Wissowa 1979: I, 1149, ZZ. 50-52).215
Subtil ist die paulinische Lehre von einem „verweslichen“ und einem
„unverweslichen Leib“ (1 Kor 15, 42f.) assoziativ mit dem mythischen Geschehen
verwoben. Wiederum wird die paulinische Denkrichtung dabei im kentaurischen
Mythos gespiegelt: Paulus verspricht den Seinen den „Tausch“ ihres „natürlichen“
gegen einen „geistlichen“ Leib (1 Kor 15, 44), wodurch Tod und Sünde endgültig
ihren „Stachel“ verlieren:
Denn dies Verwesliche muß anziehen die Unverweslichkeit, und dies Sterbliche muß
anziehen die Unsterblichkeit. Wenn aber dies Verwesliche anziehen wird die Unver
weslichkeit und dies Sterbliche anziehen wird die Unsterblichkeit, dann wird erfüllt
werden das Wort, das geschrieben steht (Jesaja 25, 8; Hosea 13, 14): 'Der Tod ist ver
schlungen vom Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?' Der Stachel des
Todes aber ist die Sünde, die Kraft aber der Sünde ist das Gesetz. Gott sei Dank, der
uns den Sieg gibt durch unsern Herrn Jesus Christus!“ (1 Kor 15, 53-56)
Wobei hier Luthers kraftvolle Übersetzung des Stachel-Verses wiedergegeben
werden muß, um den ungeheuerlichen Nachhall dieser Worte zu ermessen, die
Menschen ermöglicht („Paiguillon de la necessite“, Rousseau 1984: 112/113). Aber im Ge
gensatz zu den Zügen zivilisatorischer Entfremdung, die Gegenstand eines klischeehaften
Zerrissenheitsdiskurses geworden sind, ist das Entfremdungssymptom der „Hilfe“ ein pa
radoxes Phänomen. Gerade die sozialutopische Religion schlechthin, das Christentum,
wird mit ihrem Barmherzigkeitspostulat und ihrer Ethik der Nächstenliebe zum Stadium
negativer Zivilisierung, von Sittenverfall und Ständegesellschaft („penchant naturel qui
nous fait souffrir [...] en voyant la douleur d’autrui“; „sentiment de commiseration et de
pitie“, Discours-Fragment Nr. 8, Rousseau 1984: 416).
Der barmherzige Samariter legitimiert den politischen Reformator, der unter den ver
armten Massen für eine bessere Welt kämpft. Das Christentum, das die bedingungslose
Ethik des Guten in seinen Mittelpunkt gerückt hat, kann deshalb nur an einem Tiefpunkt
der geschichtsphilosophischen Entwicklung entstehen: in der Zeit des Römischen Reiches,
das neben Imperialität, Klassen- und Sklavengesellschaft auch ein weiteres (mit Rousseau
eigentlich „negatives“) Kompensat einer Zivilisierung zum Schlechten hin hervorgebracht
hat: das positive Recht (der Verfassungen etc.), das im Gegensatz zur herrschaftsfreien
(„positiven“) Anarchie das „Naturrecht“ erst festschreiben muß. Hier berühren sich Politi
sche Theologie (Paulus) und Politische Philosophie (Rousseau).
215 „Nach dem Mythos ersehnte der unter seiner vergifteten Wunde leidende Kentaur Chiron
den Tod, konnte ihn aber als Unsterblicher nicht ohne weiteres erlangen. Erst durch die
Botschaft des zurückkehrenden Herakles, Chiron dürfe zur Erlösung des Prometheus seine
Unsterblichkeit aufgeben, findet der unheilbar Verwundete seinerseits Erlösung im Tod.
Er ist sich dieser Erlösung schon zum Voraus gewiß, denn sie wurde prophezeit, wie bei
Aischylos, Prometheus, VV. 1026-1029, und bei Apollodor II, 85, 119 überliefert ist.“
(Schmidt 1985: 124f.; vgl. die „hegelianische“ Lesart dieser Konstellation bei Schmidlin
1992/93: 206ff.)