Page 233 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Paulus und Chiron 231
Chirons Vision strukturieren, soweit sie nicht Gemeinplätze mystischer Inspira
tionserlebnisse darstellen (vgl. Erstfassung von ‘Der blinde Sänger’ und Motiv der
Blindheit im Motto der Ode aus dem Aias des Sophokles: „Es-löste nämlich das-
grausige Leid von den Augen Ares“, FHA 16: 62).
Angesichts solcher Offenbarungen vermag auch der notorische Zweifler und
Melancholiker Chiron (der „Nachdenklich[e]“, V. 1) nicht mehr „wider den
Stachel zu locken“, wie eine Stimme dem Paulus verkündete (Apg 26, 14). Den
gewandelten „Paulus“ spricht die göttliche Stimme in der Damaskusvision mit
seinem hebräischen Namen „Saulfus]“ an, sein „kentaurisch“ früheres oder anderes
Ich (ebd.).
Die Notwendigkeit des verheißenen Umbruchs in der Lichtvision Chirons
bannt Hölderlin daraufhin unwillkürlich in das Bild von „Wagen“ (V. 25) und
„Sporen“ (V. 44). Diese Evokation des herrscherlichen Gespanns mythisiert den
Heiland, den kurios christos und sein irdisches Königtum, die basileia thou theou
(vgl. Taubes 1993: 71). Überträgt man das Bild vom Tigergespann aus ‘Der
Einzige’ I (VV. 53-55), wo Dionysos die wilden Bestien zähmt, um seinen
Triumphzug als messianischer Kultivierer anzutreten, auf die Situation Chirons,
so ergibt sich folgende Konstellation: Chiron versteht sich, erschüttert angesichts
des „Wagen des Donnerers“ (V. 25) und der „Sonne“ des königlichen Jesus
Christus (ein „Herrscher, mit Sporen“, V. 44), als ein grotesker „Vorreiter“ der
göttlichen Neuordnung. Als Kentaur ist er nämlich noch mit dem Tierisch-Trieb
haften verwachsen und damit unentrinnbar ijn tragischen Zustand befangen. Erst
Achill ist es gegeben, als ein „freier“ „Reiter“ oder „Ritter“ zum irdischen Wegbe
reiter der himmlischen Heerscharen zu werden und geistigtätig für das
Messiasreich zu kämpfen (VV. 49-52). Allein aus dem vollen Bewußtsein und Ein
verständnis in die tragische Theodizee kann sich die Hoffnung auf eine
messianische Überwindung des Mythischen gründen: aus der Tragik des thessali-
schen Roßmenschen geht die messianische Gewißheit des „achilleischen“ Helden
für Hesperien hervor, der als „Reiter“ in freier Entgegensetzung Geistprinzip und
Tatprinzip zum Ausgleich bringen wird.
Motivisch konsequent führt Hölderlin diesen Umbruch von der mythischen
Nacht (‘Brot und Wein’) zum messianischen Tag (‘Wie wenn am Feiertage...’,
‘Friedensfeier’) durch. Die messianische Taghälfte der Ode (VV. 26-52) komple
mentiert die in der tragischen Nachthälfte (VV. 1-25) aufgerufenen Bilder. Aus
den „Kräutern des Walds“ (V. 5) und dem „ersten Strauß“ von „Krokus und
Thymian / Und Korn“ (VV. 13f.) wird die Mischmetapher von Pflanze und
Feuer, das Bild vom ,,üpp[i]g[en] Kraut“ (V. 31),212 das zum apokalyptischen
212 Das „Kraut des Kentauren“ ist Chironia Centaurium oder Erythraea Centaurium, das
„Tausendgüldenkraut“ aus der Familie der Enziangewächse. Eine falsche Volksetymologie
leitete den lateinischen Namen von centum, „hundert“ und aureus, „golden“, ab. Daher
nannte es der Volksmund auch „Hundertgüldenkraut“, aber das größere Zahlwort setzte