Page 237 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Paulus und Chiron 235
Hölderlin so beeindruckt haben, daß er sie in einer seiner ganz frühen Oden im
Klopstock-Stil aufgenommen hat:216
Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?
(1 Kor 15, 54b. 55 )
An dieser zentralen Stelle seiner Zwei-Leiber-Lehre bedient sich Paulus des signi
fikanten Wortes KEvxpov für „Stachel“.217 Auch Hölderlin folgt einer falschen
Etymologie des Wortes „Kentaur“ von kentein für „stechen“ und tauros, „Stier“
(vgl. Schmidt KHA I: 808).218 Damit ist die inverse Analogie perfekt: Chiron gibt
umgekehrt seine Unsterblichkeit an Jupiter und Herakles ab, um endlich in Frie
den sterben zu dürfen. Wie bei der Umkehrung der messianischen Tendenz von
Nah- und Fernerwartung folgt Hölderlin auch in diesem Fall den Struktur
gesetzen einer inversen Verschränkung von Mythologie und Heilsgeschehen,
paulinischer Pneumatik und kentaurischer Tragik.
Hölderlins assoziative Verwendung des mythischen Unsterblichkeitstauschs
aus dem Sagenkreis von Chiron, Herakles und Prometheus ahmt das christliche
Erlösungsgeschehen mimetisch nach-, wobei das zeitliche Paradox einer antik-my
thischen „Nachahmung“ christlichen Heilsgeschehens, das erst Jahrhunderte später
stattfand, nur durch die spezifische Konstellation der Ode möglich ist. Ein mo
dernes, hesperisches Dichter-Ich benutzt damit eine Gestalt des archaischen
Mythos, um Paulus, eine Schlüsselgestalt des christlichen Abendlandes, poetisch
zu modifizieren. Ein modernes Ich, das sich am Ende des Christentums sieht, in
strumentalisiert eine vorchristliche Mythe, um eine rationalistisch und
empiristisch ausgezehrte Theologie bildlich und sinnlich zu verjüngen, gleichsam
in Bild und Gestalt zu retten. Zum anderen dient die implizite Paraphrasierung
paulinischen Denkens aus dem fiktiven Munde des Kentauren dazu, einen
216 Vgl. ‘Die Unsterblichkeit der Seele’ (1788): „Und meine Seele - wo ist dein Stachel, Tod? /
O beugt euch, Felsen! neiget euch ehrfurchtsvoll, / Ihr stolzen Eichen! - hörts und beugt
euch! / Ewig ist, ewig des Menschen Seele.“ (VV. 33-36)
217 Zur antiken und paulinischen Bedeutung von kentron vgl. Klausner 1950: 306, Anmerkung
Nr. 17 und WbNT III, 662-668.
218 Zur griechischen Etymologie: 1. Das Wort Kevxaupoi stammt volksetymologisch von
„Wasserpeitscher“ (Pauly/Wissowa 1979: 3, 183f.) und reflektiert sprachlich die Funktion
der Kentauren als Personifikationen von verheerender Naturgewalt wie Bäche und Ströme
sie darstellen. Das motiviert Hölderlins Aufladung der Kentauren im Begriff des
kulturstiftenden „Geiste eines Stromes“ (KHA II: 772, ZZ. 13f.).
2. Die volksetymologische Verschiebung von -teuros zu -tauros mag auch Hölderlins
merkwürdige Verwendung einer „falschen“ Etymologie für seine Chiron-Ode motiviert
haben (vgl. Schmidt 1992, KHA I: 808). Hölderlin leitet das Wort „Kentaur“ offenbar von
einer Mischung aus taupoq = „Stier“ und kevteiv = „stacheln“, „stechen“ ab (vgl.
Hederich 1770, Sp. 655; Schmidt 1992: 808). Kentein kann dabei (a) im Sinne von
„anstacheln“ (z. B. eines Pferdes) gemeint sein oder (b) im Sinne von „durchbohren“,
„martern“ (Gemoll 91991: 432/1).