Page 41 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Disposition, Methodik und Begriffe 39
derlins Staatsdebatten im Hyperion um Herrschaftslosigkeit, den Staat als „Garten“
und „Geisterbund“ (KHA II: 40, ZZ. 6-10), als „Freistaat“ und „heilige Theo
kratie“ (KHA II: 108, ZZ. 24-28) ähneln den „Urworten“ des nationalen
Selbstverständnisses der Juden, wie Taubes diese Denkfiguren nennt (Taubes 1991:
25-31). Taubes erhebt Begriffe wie „Bund“ (ebd. 19), „Theokratie“ (ebd. 18), das
„Gemeinwesen ohne Obrigkeit“ (ebd.) und die „Eidgenossenschaft“ (ebd. 19) zu
Inbegriffen der Selbstorganisation des jüdischen Volkes ohne Staat.
Vor allem Taubes’ Bezeichung der nomadisierenden Stämme Israels zur Rich
terzeit als „Eidgenossenschaft“ motiviert eine Brücke zwischen der antiken
Verfassung des Judentums und den staatstheoretischen und politischen Um
brüchen des 18. Jahrhunderts. Immer wieder nämlich dienten den deutschen
Intellektuellen kommunitaristische Revolutionsversuche und Staatsexperimente
im Zeichen von „Republik“, „Eidgenossenschaft“ und „Bund der Freien und
Gleichen“ in Europa und Übersee als Projektionsfläche für ihre nationalen
Phantasien. Diesen Utopien lief die partikularistische Zersplitterung des Heiligen
Römischen Reiches Deutscher Nation krass zuwider. Das spiegelt sich im litera
rischen und publizistischen Interesse von Klassik bzw. Sturm und Drang an zeit
genössischen oder historischen Freiheitskriegen und geglückten Revolutionen.
Das Amerika aus Schubarts ‘Kaplied’, Hölderlins Griechenland im Hyperion
(wohlgemerkt: das zeitgenössische Griechenland der 1770er Jahre!) und sein Kor
sika aus dem Versepos ‘Emilie vor ihrem Brauttag’ oder Goethes Niederlande aus
dem Egmont sowie Schillers Schweiz im Wilhelm Teil sind Ausdruck dieser uto
pischen Substitution der (nichtvorhandenen) eigenen Einheit im großen durch die
fremden kleinen Nationen.
Wie der Blick der deutschen Intellektuellen kompensatorisch auf die wenigen
europäischen Binneninseln nationaler Selbstverwirklichung in Gestalt der kleinen
und nahen Nationen fiel, zeigt das rege Interesse von Hölderlins Freunden am
politischen und geschichtlichen Schicksal der Alpenrepublik. Casimir Ulrich
Böhlendorff (1775-1825) und Johann Gottfried Ebel (1764-1830) verfaßten beide
kleinere Schriften über die Schweiz (C. U. Böhlendorff: „Geschichte der
Helvetischen Revolution.“ In: [Woltmanns Zeitschrift] Geschichte und Politik,
Berlin 1802; J. G. Ebel: Schilderung der Gebirgsvölker der Schweitz. 2 Teile. Leipzig
1798/1802). Auch das Journal-Projekt der „Englischen Blätter“ (Erlangen, 1793-
1801) von Ludwig Albrecht Schubart (1765-1811) bestätigt die These von der
nationalen Substitution und Kompensation. Hölderlin hatte den Sohn des
schwäbischen Patrioten und Dichters Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-
1791) auf seiner Postkutschenreise von Stuttgart nach Nürnberg Ende 1793
kennengelernt. Er war angetan von Schubarts selbstbewußten Plänen für eine
Zeitschrift („Sein Mund ist eine Posaune des Egoismus“, vgl. Hölderlins Brief an
Stäudlin und Neuffer vom 30. 12. 1793, KHA III: 118, Z. 27). In einem Brief an
Schiller sieht Schubart seine „Englischen Blätter“ ebenfalls als Medium einer
„verdeckten Schreibweise“ (Erwin Rotermund), die vorsah, in den Berichten über