Page 43 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Disposition, Methodik und Begriffe            41

        deutschen  Wunsch-Heroen  heben  den  Arm  und  exemplifizieren  als  avantgarde
        literarischer  Figuren  den  deutschen  „Musenjünglingen“  ihre  eigentliche  Rolle  als
        Vorkämpfer  einer neuen  Ordnung.  Hölderlin  verjüngt  die  christliche  Theologie
        dabei  in  Richtung  auf  ihre  apokalyptischen  Wurzeln  und  erneuert  sie  aus  dem
        reichen  Reservoir  mythischer  Sinnlichkeit  und  Körperlichkeit.  Unwillkürlich
        scheint  Hölderlin  die  Geburt  der  Theologie  aus  politischen  Vorstellungen
        nachzuvollziehen,  denn  nirgends  ist  die  Theologie  politischer  als  in  den  Fragen
        nach  dem  Wie  des  Weitendes,  nach  der  Identität  des  Befreiers  oder  nach  der
        göttlichen Legitimierung von Weltherrschaft.
           Damit   verschiebt   sich   das   Augenmerk   von   der   herkömmlich
        „philosophischen“  Hölderlin-Deutung  auf  den  Bereich,  wo  sich  Politische
        Theologie  und  Mythologie  berühren:  in  der  mythischen  Maskierung
        messianischer  Denkfiguren.  Paulinische  Politizität  und  homerische  Heldenstatur
        stehen  erst  nach  dieser  methodischen  Betonung  des  Politischen  in  Hölderlins
        Mytho-Theologie  gleichberechtigt  neben  den  kantischen  oder  rousseauschen
        Elementen in seinem Denken.

        Chihasmus, Millenarismus und Anarchismus. Die  moderne Forschung hat mit dem
        Standardwerk  des  Mediävisten  Norman  Cohn  The  Pursuit  of Millenium (1959;

        31970) den Terminus „Millenarismus“ geprägt für die chiliastische Erwartung eines
        tausendjährigen  Reiches  nach  Offb  20,  4-6.  Der Begriff „Chihasmus“  kommt  bei
        Cohn  auf der  analytischen  Ebene  gar  nicht  mehr  vor  (vgl.  Register  Cohn  1988:
        404-410).  Seit den Forschungen Cohns und Eric J. Hobsbawms  (Primitive Rebels,
        1959)  erscheinen  „alle  diesseitsorientierten  Chiliasmen  als  millenarische
        Bewegungen“ zusammengefaßt  (v. Müller in Cohn  1988: 399, Anmerkung Nr.  3).
        Dem  Begriff  „Chihasmus“  kommt  daher  eher  historisch-theologische  Bedeutung
        zu,  während  moderne  Religionswisschaftler  und  Historiker den  „Millenarismus“
        bevorzugen (vgl. Scholem  1992:  109-118; Maurer in Taubes  1983:  117-135).
            Die  Hölderlinforschung  spricht  von  „chiliasm“  (Gaskill  1978:  19ff.),  vom
        „Endkaiser-Chiliasmus“  der  späten  Hymnik  (Rosteutscher  1966:  69-72)  oder von
        „Chihasmus als zentrale[m] Strukturmoment“ der Patmoshymne (Jochen Schmidt
        1990: 86-100), um der historischen Bedeutung des Begriffes (z. B. im Schwäbischen
        Pietismus)  gerecht  zu  werden.  Die Interpreten  haben  allerdings den  polemischen
        Unterton  verkannt,  der  dem  Wort  „Chihasmus“  in  der  zweiten  Hälfte  des
        18. Jahrhunderts eignet  und der bereits  in  Kants  berühmten Diktum,  „die  Philo­
        sophie  könne  auch  ihren  Chihasmus  haben“  anklingt  (Hervorhebung  original).
        Kant fährt  nämlich  unmittelbar fort:  „aber einen solchen [Chihasmus,  R.  C.],  zu
        dessen  Herbeiführung  ihre  Idee  [die  Idee  der  Philosophie,  R.  C.],  obgleich  sehr
        von weitem,  selbst  beförderlich werden  kann,  der also  nichts weniger als schwär­
        merisch  ist“  („Idee zu einer allgemeinen  Geschichte  in  weltbürgerlicher  Absicht“,
        Kant  1993 [1795]: 45).
            Dieser Analogie von „Chihasmus“ und „Schwärmerei“  gab Heinrich Corrodi

        mit  seinem  vierbändigen  Standardwerk  (Kritische  Geschichte  des  Chihasmus [...],
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