Page 39 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Disposition, Methodik und Begriffe 37
auch dem immanent erwarteten, diesseitig-historisch-zeitlich gedachten Messias
das Merkmal von Ferne und Verzögerung anhaften (z. B. im rabbinischen Juden
tum). Überspitzt formuliert: in der eher christlichen Vertikalität gibt es Elemente
des „Hier und Jetzt“; und in der eher jüdischen Horizontalität der messianischen
Erwartung gibt es die dilatorische Dauer: jeden Tag erwarten die orthodoxen Ju
den das Kommen des Messias und den Wiederaufbau des Tempels, - das allerdings
schon seit fast 2C00 Jahren, wenn man die Zerstörung des 2. Tempels 70 n. Chr.
zugrundelegt.
Messianismus in dürftiger Zeit. Die messianische Idee ist geeignet für die enorme
spekulative Last, mit der sie Hölderlin durch seinen Utopieentwurf befrachtet. In
„dürftiger Zeit“ (‘Brot und Wein’, V. 122), der geschichtsphilosophischen „Nacht“
der deutschen Misere, bedarf die idealistisch inspirierte Generation um Hölderlin
einer abstrakten messianischen Erlösungsverheißung. Jacob Taubes hat die mes
sianische Apokalyptik einmal als Literatur in „zum Zerreißen gespannten Zeiten“
und als Ausdruck historischer „Drangsal“ bezeichnet (Taubes 1991: 23).37
Diese Eignung der messianischen Idee des Judentums für eine politische und
historische Mangelsituation spiegelt sich in religionspsychologischen Über
legungen, wonach monotheistische und vor allem bilderlose Religionen wie das
Judentum und der Islam nur an einem Ort des Mangels entstehen konnten: in der
Wüste.38 Dies nicht nur im konkret geographischen, sondern auch im über
tragenen Sinne: Mit dem Wüstenschicksal des jüdischen Volkes zum Beispiel war
immer auch die historische Mangelsituation, das Fehlen dauerhafter staatlicher
und institutioneller Verankerung der Juden gemeint. Die Nomaden im Raum wa
ren stets auch die Nichtseßhaften der Geschichte. Durch ihre hochgradige
intellektuelle Anpassung an eine widrige Umwelt, die Erfahrung von Vertreibung
und Exil, scheinen die Denkfiguren, die von diesen Religionen hervorgebracht
37 Vgl. dazu Hölderlins Brief an Ebel vom 10.1.1797, in dem er den Zeitgeist als „eine unge
heure Mannigfaltigkeit von Widersprüchen und Konstrasten“ beschwört (KHAIII: 252,
Z. lf.). Ähnlich der Zerrissenheits-Topos in der Scheltrede des Hyperion: „Handwerker
siehst du, aber keine Menschen [...]“ (KHA II: 168, Z. 18f.). Hyperion vergleicht
Deutschland im gleichen Atemzug mit einem Schlachtfeld von Körpern, die „zerstückelt“
daliegen (vgl. ebd. ZZ. 21-24).
38 „So ist die Geographie die einzige exakte Wissenschaft von der Religion. Denn auch die
Götter haben ihren lieu naturel. Es kommen abertausend Götter, Göttinnen und Dämo
nen aus den Dschungeln Indiens. Und viele, viele wundersame Phantasien der Meditation.
Der eine Gott kommt aus der Wüste. Moses, Jesus, Mohammed, alle, die den einen Gott
gepredigt haben, kamen aus der Wüste. Sie ist der lieu naturel des Monotheismus.“ (Brant
1985: 64)