Page 44 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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          Leipzig  und  Frankfurt  1781;  Zürich  1794)  redseligen  Ausdruck:  In  seiner
          „Vorrede“  fundiert  Corrodi seine Geschichte  des Chiliasmus  als  „Pathologie“  der
          „Verirrungen“  (Corrodi  1794  [1781]:  I,  V)  einer  „versengt[en]  Einbildungskraft“
          (ebd.  XVII),  als  Zeichen  sektiererischer  „Ueberspannung“  (ebd.  V)  und  der
          schieren  „religiösen  Schwärmerey“  (ebd.  VI).  In  seinem  rationalistischen
          Ressentiment  versteigt  sich  Corrodi  dazu,  den  Chiliasmus  pauschal  als
          „Fanaticismus“ zu verdammen:
              Wenn  die  Pathologie  wichtige  Beyträge  zur Kenntniß  des  menschlichen  Körpers  lie­
              fert,  so  muß  eine  Geschichte  der Krankheiten  der  Seele  auch  wichtige  Beyträge  zur
              Kenntniß  seiner  Seele  liefern.  Eine  Geschichte,  in  welcher  die  Verirrungen  des
              menschlichen Verstands,  und  die Unordnungen,  und  Ausschweifungen seiner Einbil­
              dungskraft  in  einem  getreuen  Gemählde  vorgestellet,  worinn  ihre  Quellen  und
              Ursachen  aufgedeckt  würden,  müßte  für den  Liebhaber  des  Studiums  des  Menschen
              sehr  interessant  seyn.  Eine  solche  wäre  unstreitig  der  [sic]  Geschichte  des
              Fanaticismus. (Corrodi  1794 [1781]: I, V)
          Man  muß  also  immer  die  polemische  Aufladung eines  Wortes  wie  „Chiliasmus“
          mitdenken,  wenn man  es für das  Verständnis  des  18. Jahrhunderts  fruchtbar ma­
          chen  will.  Auf  Corrodi  werde  ich  an  anderer  Stelle  noch  näher  eingehen.
          Festzuhalten  gilt  für  die  heutige  Forschungslage:  Cohns  Versuch,  die  millena-
          ristischen  Bewegungen  des  Mittelalters  als  Vorgeschichte  der  Ideologien  und
          Totalitarismen  des  20.  Jahrhunderts  zu  lesen,  hat  seine  Vorläufer  in  dieser  auf-
          klärerisch-empiristischen  Tradition  Corrodis:  im  zutiefst  anti-irrationalistischen
          Credo  des  orthodoxen  Rationalismus.  Für  Corrodi  sind  Eschatologie  und  Apo-
          kalyptik  „Häresien“  gegenüber  einer  „vernünftigen  Religion“  (Corrodi
          1794 [1781]: I, VII). Im Chiliasten schimpft der Aufklärer auf seinen „Ketzer“.
              Zwar wurden viele  Erkenntnisse  Cohns  über die chiliastische Idealtypik  be­
          stimmter   Merkmale   von  Kommunismus    und   Faschismus  von   der
          Totalitarismusforschung  akzeptiert  (z. B.  die  Deutung  des  Hitlerfaschismus  als
          „millenarian revolution“, vgl. von Müller in Cohn  1988:  385, Anmerkung Nr.  5).
          Aber  Hobsbawm  und  andere  haben  gezeigt,  daß  die  atavistischen  Motivationen
          eschatologischer  Bewegungen  nicht  ausreichen,  um  die  immense  Dynamik  mo­
          derner   Sozialutopien  zu  erklären   (ebd.   386).  Auch   die  markante
           „Internationalität“  eschatologischer  und  apokalyptischer  Denkweisen  (etwa  im
          melanesischen  Cargo-Kult)  relativiert  eine  mögliche  Genese  des  Totalitarismus
          allein aus dem Wurzelgrund des judäochristlichen Chiliasmus (Cohn 1988: 386f.).


           Christologie versus Soteriologie. Die Identität  zwischen  Helden-  und Erlösergestalt
           im  Wechselspiel von  anthropomorphen  und  theomorphen  Zügen  ist  eine  uralte
          Dichotomie, die ihren Ursprung im gnostisch-dualistischen Mythos vom „erlösten
           Erlöser“  hat  (Rudolph 21980).  Im Akt  der Erkenntnis  (gnosis)  finden  dort der ge­

           fallene  leibseelische  „alte“  Adam  kadmon und  der  „neue  Mensch“  wieder
           zusammen  und  aus  der  Gefangenschaft  in  der  dunklen  Körperwelt  heraus  (vgl.
           Taubes  1991:  31).  Auch  Hölderlin  vollzieht  diese  Identifikation.  „Halbgott“,
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