Page 38 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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36                            Einleitung



          „gewissermaßen  eine  Horizontale“  (ebd.  14),  markiert  von  der  arche der

          Schöpfung bis zum eschaton der Erlösung. Der Messias ist ein Abkömmling König
          Davids,  ein  „Reis  aus der Wurzel Jesse“  (ebd.).  Ethische  Selbstvervollkommnung
          und diesseitige Verbesserung der Welt sind für die Propheten  (z. B. Jesaja, Micha)
          wichtige  Schritte  auf  dem  Wege  zur  Vollendung  in  den  „kommenden  Tagen“.36
          Die  zweite  Messiasidee  ist  Leo  Baeck  zufolge  weniger  zeitlich  als  vielmehr
          räumlich  und  „vertikal“  strukturiert.  Diesseits  und Jenseits  sind  hier als ein  Ver­
          hältnis von oben und unten gedacht; der „Menschensohn“ wird nicht genealogisch
          gedacht, sondern entspringt einer geistigen Präexistenz.  Als Messias wird er nicht
          zeitlich-linear  erwartet   („kommende   Tage“),    sondern   räumlich-kosmisch
          konstruiert  („kommende  Welt“).  Quelle  für  diesen  Messiasbegriff  ist  das
           apokalyptische  Gesicht  Daniels.  Wie  die  jüdische  Weisheitsliteratur  reflektiert
           auch   das  Buch   Daniel   griechisch-alexandrinische   Einflüsse  in  seiner
          Messiasvorstellung  (z. B.  das  Schema  von  oben  und  unten,  das  aus  dem
           griechischen kosmos-Denken abgeleitet ist).
              Seit  der  hellenistischen  Zeit,  so  Leo  Baeck,  existieren  „horizontale“  und
           „vertikale“  Messiasidee  nebeneinander.  Jesus  und  seine  Jünger  übernahmen  zu­

           nächst  diese gemischte jüdische  Messiasvorstellung.  Beleg hierfür:  Die  Synoptiker
           beziehen  den  apokalyptischen  „Menschensohn“  Daniels  in  gleicher  Weise  auf
          Jesus (Baeck  1961:  16)  wie die Davidsverheißungen Jesajas und Michas (z. B. Mt 9,
           27;  12,  23;  21, 9; vgl.  Baeck  1961:  16).  Erst  Paulus  favorisiert  den vertikalen Mes­
          sianismus:  Die  plötzliche,  „jetzige“  Vision  des  Messias  und  seines  Reiches  bei
           Daniel ist ihm mystisches Initiationserlebnis des Glaubens.
               Horizontale und vertikale Messiasidee bei Leo Baeck lassen sich zwar mit Be­
           griffen wie „Immanenz“ und „Transzendenz“ verbinden, etwa nach dem Schema:

                  •   prophetisch-horizontal  =  immanent-geschichtlich, und
                  •   apokalyptisch-vertikal  =  transzendent-mystisch.
           Aber die Analogie:  prophetisch/horizontal/immanent  als baldig  und bevorstehend
           gedacht, wogegen  apokalyptisch/vertikal/transzendent  ein vertagender  Sinn  inne­
           wohnt,  funktioniert  nicht. Denn  die  vertikal-transzendent  gedachte  mystische

           Schau des Maschiach Iesus Christos versteht Paulus als „gegenwärtig“  (Baeck  1961:
           24).  Die  „Erlösung  durch  Gnade“  (ebd.  22)  und  die  Realität  des  „Gottesreichs“
           (ebd. 24) sind für Paulus nicht offene, sondern „erfüllte Erwartung“  (ebd.).
               Eine  Verschränkung  von  räumlicher  und  zeitlicher  Bestimmung  der
           Messiasidee  ist  also  nicht  zwingend:  auch  der  „transzendent“,  jenseitig-kosmisch-
           räumlich  gedachte  Messias  (z. B.  bei  Daniel)  kann  als  nahe  und  imminent
           verstanden  werden  (z. B.  in  der  Offenbarung  des  Johannes).  Umgekehrt  kann



            36  Baeck  unterscheidet  zwei  hebräische  Begriffe  vom  messianischen  Reich:  die  Propheten
               sprechen von den „yamim ba’im“, den „kommenden Tagen“ und meinen dies „horizontal“;
               der  Apokalyptiker Daniel  spricht  von  „‘olam  habba“,  der  „von  oben  kommenden  Welt“
               und meint es „vertikal“ (Baeck  1961:  15).
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