Page 42 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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40                            Einleitung


           andere  Nationen  im  Grunde  über  die  deutschen  Verhältnisse  zu  sprechen:
           Schubart plante
               [...] die  Quintessenz  aus den neusten und wo diese  abstehen auch  aus den altern Eng­
               lischen Journalen,  bald  ganz,  bald  im  Auszug,  bald  Stellenweise  [...]  zu  liefern;  von
               Zeit  zu  Zeit  eigne  bald  England,  bald  Frankreich,  bald  Privatfantasien  betreffende
               Aufsätze einzuschalten; ja wohl gar einen ausländischen Schild zu borgen, wo wir das,
               was  wir  auf  dem  Herzen  haben,  nicht  unter  eignem  Stempel  ins  Publikum  zu  be­
               fördern wagen dürfen. (Brief an Schiller vom 12.5.1795, zit. n. StA VI/2, 648)
           Analog zum  „Schild“  der indirekten Redeweise und zur  „Maskerade“  der Mytho­
           logie  war  die  messianische  Idee  das  ideale  spekulative  G e fä ß  für  das  Projekt,  die

           kostbare  Essenz  der idealistischen Utopien  durch  die  Wüste der  deutschen Wirk­
           lichkeit  zu transportieren.  Die  messianische  Idee  mit  ihrer jüdischen  Kontur hat
           Hölderlin  in  ihrer  ursprünglichen  Immunität  gegenüber  dem  Bildlich-Stofflichen
           fasziniert.  Sie  wird  zum  Träger  seines  Gestaltenwandels.  Aus  der  Fülle  der
           griechischen  Vorbilder  an  heroischer  Tatkraft  oder  Geistesgröße  schöpft
           Hölderlin  die  Archetypen,  die  ihm  für  die  jeweilige  historische  Situation

           angemessen  erscheinen.  Proteisch mythisiert  Hölderlin  sein  lyrisches  Ich,
           historische Figuren  wie Empedokles oder fiktive wie Hyperion  mit einer Maske,
           die auf die jeweilige historische Situation reagiert.
               Damit  überblendet  Hölderlin  Philosophie,  Politische  Theologie  und
           Mythologie  im  Fokus  der  Poesie.41   Hölderlins  philosophisch-poetisch­
           theologisches  Projekt  überschreitetet  als  Politische  „Religion“  die  engeren
           Grenzen der Politischen Theologie ebenso wie die von Philosophie und Poesie für
           sich genommen:
               Mit dem Begriff der Politischen Religion wird noch etwas anderes in den Blick gefaßt
               als  in  Carl  Schmitts  Politischer  Theologie.  Zugleich  mit  der  religiösen
               Letztfundierung  politischer  Ordnungen  geht  es  hier  um  die  sozialpsychologische
               Dynamik politischer  Bewegungen,  also  um  [...]  ‘politische  Mythologie’  [...].  Mythos
               ist bezogen auf Handeln;  hier geht es in erster Linie  um handlungsleitende Ideen,  die
               vorzugsweise  in  Erzählungen,  aber  auch  in  Bildern  und  Symbolen  Form  gewinnen.
               Theologie dagegen ist bezogen auf Erkenntnis und Deutung [...] (Assmann 21995: 30f.)
           Die  philosophische  und  theologische  Sicht  auf  das  Politische  als  Arena  des
           Kampfes  um  das  „Heiligmäßige“,  „Richtige“  und  „Gerechte“  bleibt  nämlich  in
           einem mittelbaren Sinne nur Blick auf das Verhältnis von Heil und Herrschaft  (vgl.
           Meier  in  Assmann  21995:  7-19;  besonders  19).  Erst  mit  der  literarischen
           Stilisierung  des  judaisierend-messianischen  Elements  christlicher  Theologie  in
           Gestalt  mythischer  Vorbilder  greift  Hölderlin  auch  politisch  Partei.  Seine



            41  Jan  Assman  (21995:  31,  Anmerkung  Nr.  16)  verweist  bei  der  Prägung  „politische
               Mythologie“  auf Klaus-M.  Kodalle  (,Politik als Macht und Mythos.  Carl Schmitts  'Politische

               Theologie’. Stuttgart  1973).  Allerdings  kann  man  den  Begriff etwa  in  der Weise  als  allge­
               mein eingeführt verstehen wie den von der Politischen Philosophie.
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