Page 36 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
P. 36

34                            Einleitung


           ebenfalls auf die Worte der Judäischen Sibylle zurück, um sich in ihrer Empörung
           gegen  das  römische  Regime  messianisch  zu  legitimieren.  Subversive  und  auto­
           ritative Auslegungen gingen also oft auf dieselbe Quelle messianischer Verheißung
           zurück.
               Auch die historische Theologie des  18. Jahrhunderts war sich der Brisanz be­
           wußt,  die  die  vielschichtige  jüdische  Messiasüberlieferung  mit  sich  brachte.  Vor
           allem die spekulative Deutung der zwei Hauptstränge des jüdischen Messianismus
           war  heiß  umkämpft:  das  Bild  vom  präexistenten  und  leidenden  Messias  hier
           („Messias  ben  Joseph“),  -  und  die  Vorstellung  vom  triumphierenden  König
           („Messias  ben  David“)  dort.  Um  das  zu  veranschaulichen,  seien  nur  die  beiden
           radikalen  Standpunkte  der  Zeit  skizziert,  und  zwar  anhand  Heinrich  Corrodis
           Kritischer]  Geschichte  des  Chiliasmus 1781  [1794])34  und  Hermann  Samuel

           Reimarus’  Fragment  „Vom  Zwecke  Jesu  und  seiner  Jünger“  (Reimarus
           1993 [1778]: 298-300).
               Der  Rationalist  Corrodi  leugnete,  daß  die  Juden  bereits  „einen  doppelten
           Messias  aus  dieser  zweyten  Zukunft“  entwickelt  hätten  (Corrodi  1794  [1781]:  I,
           384).  Aus der Vorstellung einer zweiten  „Zu-“  oder Wiederkunft  des Messias ließ
           sich demnach noch nicht auf eine heterogene Messiasgestalt schließen im Sinne des
           Gegensatzes von Dulder und Triumphator,  „Knecht“  und „König“  (ebd. I,  390f.).
           Diese  Ambivalenz  der  jüdischen  Messiasvorstellung  rückte  Reimarus  dagegen
           gerade in den Mittelpunkt seiner provokanten Kernthese: Die Jünger und Apostel
           hätten  das  christliche  Lehrgebäude  samt  seiner  Messiasgestalt  dem  „ersten
           Systema“  des  Judentums  lediglich  als  epigonales  „neues  Systema“  aufgepropft
           (Reimarus  1993  [1778]:  987).  Damit  sei  das  Christentum  nichts  qualitativ  Neues
           und  gleichsam  nur  aus  einer  Instrumentalisierung  der  jüdischen  Messias­
           verheißung  durch  machtbewußte  Apostel  entstanden.  Der  Diskurs  des  18. Jahr­
           hunderts  hat  die  Pluralität  messianischer  Denkfiguren  also  bereits  an  zentraler
           Stelle  problematisiert:  am  Schnitt-  und  Scheidepunkt  von  Judentum  und  Chri­
           stentum.


           Dialektik  und „harmonische Entgegensetzung“. Strenggenommen  sind  „Dialektik“
           und  Begriffe  wie  „Messianismus“,  „Eschatologie“  oder  „Apokalyptik“  Gegen­
           begriffe,  also  komplementär  verteilt:  der  messianische  Einbruch  eines
           Transzendenten  in  die  Geschichte  ist  ganz  und  gar  „undialectical“  (Gaskill  1978:
           27).  Bei  Hölderlin  müßte  man  genauer  im  Blick  auf  sein  messianisches  Denken
           von  „Entgegensetzung“  (z. B.  immanenter und transzendenter)  Aspekte sprechen.
           Hegel  allerdings  bedient  sich  in  der Entstehungsphase  seiner  Dialektik  ebenfalls
           des  Wortes  „Entgegensetzung“  (z. B.  im  „Systemfragment  von  1800“).  Das  er­
           schwert die Unterscheidung.  Bei  Hölderlin  hat  „Entgegensetzung“  nicht  nur eine


            34  Corrodi  polemisiert  in  seinem  Kapitel  unter  folgender  Überschrift  gegen  Reimarus:
               „Achtzehnter  Abschnitt.  Bemerkung  eines  wichtigen  Irrthums  des  Verfassers  der
               bekannten Broschüre, vom Zwecke Jesu, und seiner Jünger.“  (Corrodi  1794 [1781]: I, 383-
               392)
   31   32   33   34   35   36   37   38   39   40   41