Page 45 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Disposition, Methodik und Begriffe 43
„Götterbote“ und „Gottessohn“ dienen ihm dabei nur als Träger für seine Speku
lationen. Inwieweit die gnostische Lehre, von den Erlösermythen, die sog.
„Soteriologie“ (von griech. soter = „Herr“), über die Rezeption in der deutschen
Mystik das künstlerische Selbstbild geprägt hat, wird noch zu zeigen sein.
Die christliche Vorstellung des Erlösers gründet in der semitischen Vor
stellung einer präexistenten mach (hebr. für „Hauch“, „Geist“),42 dem der Messias
entspringt. Der judäochristliche Messias wurzelt damit fest in monistisch-mo
notheistischem Boden. Die gnostische Erlösergestalt dagegen steht im Spagat eines
fundamentalen Dualismus der Welt und ist nicht semitisch messianisch, sondern
griechisch mythisch gedacht. Sie überbrückt die Sphäre von „Licht“ und
„Finsternis“, göttlicher Geistsphäre und menschlich-materieller Körperwelt:
Für das Christentum ist der .Erlöser“ Christus eine unumgängliche Voraussetzung der
Erlösungshoffnung, da sich der Glaube auf seine [...] Heilstat, die mit seiner Person
identisch ist, bezieht. [...] Der antiken Vorstellung vom .Erlöser“ entspricht mehr der
Begriff .Befreier“, .Retter“. Und dies trifft nun wirklich auch die gnostischen .Erlöser“-
Gestalten. Es sind nämlich diejenigen, die dem Menschen überhaupt erst einmal den
Weg zur .Befreiung“ aus dem Kosmos weisen. Man kann sie ebensogut .Offenbarer“
oder .Gesandte“ bzw. .Boten“ nennen, die im Auftrag des höchsten Gottes die
Heilsbotschaft von der erlösenden Erkenntnis vermitteln. (Rudolph 21980: 138)
Systematisch muß streng zwischen den Begriffen „Erlöser“ im Sinne des gno
stischen Erlösermythos („Soteriologie“) und „Erlöser“ im christlichen Sinne
(„Christologie“) unterschieden werden (Rudolph 21980: 138). Wenn Paulus die
griechisch-gnostische Vorstellung vom „idealen Urmenschen“ (Anthropos, Adam)
mit dem jüdischen Messias verschmilzt, um den christlichen Messias zu
begründen, bleibt zu betonen: Der gnostische Erlösermythos und der Messias der
jüdischen Apokalyptik haben ursprünglich nichts miteinander zu tun (vgl. Colpe
1993: III, 12).
Genius und Geniebegriff. Eine weitere Personifikation des messianischen Mittlers
muß schließlich in die Begriffsunterscheidung einbezogen werden: Hölderlins
Geniuskonzept. Die aus der römischen Staatsmythologie stammende Figur des
„Genius“ steht zum einen für die stellvertretende Funktion des herausragenden
einzelnen für eine Gemeinschaft, die „apriorität des Individuellen über das Ganze“
(Fragment Nr. 81, KHA I: 446); so besaß eine römische Familie oder eine Legion
ihren eigenen Genius, in dem sich das Kollektiv verkörperte. Auch ein abstraktes
Motto, eine Losung, konnte sich in der meist geflügelten Gestalt des Genius
manifestieren. Zum anderen verkörpert der Genius die ikarischen Wesenszüge der
Mittlergestalt: die „beflügelte“ Inspiration, die Schwebe und Entfesselung der
utopischen Begeisterung. Etymologisch verknüpft der Geniusbegriff den
mythisch-synthetischen Bildbereich mit der analytischen Ebene (Geniebegriff).
42 Rüach ist ein weiblicher Begriff (vgl. WbPh III, Sp. 162-165).