Page 40 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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38                            Einleitung


           werden,  besonders  geeignet,  Zeiten  der  Unterdrückung,  der  politischen  Ent­
           rechtung und Anfechtung zu bewältigen.39
               Leo  Baeck  hat  diesen  Charakterzug  des  Judentums,  das  immer  das  ab­
           strahierte,  ideelle  Substrat  seines  Wesens  über  die  konkreten  institutionellen
           Selbstverwirklichungen durch Nation, Staat oder Kirche  stellen mußte, zum Ent­
           wicklungsvorteil  erhoben.  Die  Zeiten  der  Fremdbestimmung  durch  andere
           Mächte  überstand  das  Judentum  nur  durch  die  rigorose  ethische  Selbstab­
           schnürung:  durch  den  Verzicht  auf  das  quasi  Akzidentielle  staatlicher
           Institutionen,  die  Absage  an  die  Fülle  der  Bilder  und  sinnlichen  Selbst­
           darstellungen,  wie  sie  die  öffentliche  Ikonographie  der  Assyrer  und  Babylonier,
           aber  auch  die  politische  Mythologie  der  Römer  und  der  hellenistischen  Reiche
           verkörperten.  Das Judentum  beschränkte  sich  vielmehr  stets  auf die  rein  ideelle
           Substanz messianischen Denkens:
               Der Hintanstehende und Unterliegende wird immer an sich glauben können, er wird
               es oft müssen, wenn er nicht verloren sein will. [...] Die Juden sind zudem stets die
               Wenigen gewesen, und  eine  Minderheit ist immer  zum Denken genötigt; das ist der

               Segen ihres Schicksals.  (Baeck o. J . : 3 - Hervorhebung original)
           Das  führt  ins Herz  der Problematik  der deutschen  Intellektuellen  um  1800:  Die
           ,,[h]intanstehenden“  und  „[unterliegenden“  Hofmeister,  Pfarrer  und Professoren
           kompensierten  ihr  Sendungsbewußtsein  in  der  politischen  Diaspora  von  intel­
           lektueller  Isolation  und  partikularer  Zerstreuung  durch  die  ethischen  und
           messianischen Systeme des deutschen Idealismus und der Frühromantik.40
               An die Stelle der politisch-konkreten „Festung“ trat im Judentum die Speku­
           lation  auf die  messianisch  abstrahierte  „Festzeit“  (Baeck  o.  J.:  2).  Die  deutschen
           Intellektuellen  mit  ihrem  vertagten  politischen  Erlösungsanspruch  bauten  dem­
           gemäß, wie Abraham Joshua Heschel  über das Judentum sagt,  ebenfalls an einem
           „Palast  in  der Zeit“  (vgl.  Heschel  1949;  1962).  Das  hängt  mit  staatstheoretischen
           Präferenzen  Hölderlins  und  der  Frühromantiker  überhaupt  zusammen:  Höl­



             39  Schon  Herder  erklärt  die  orientalischen  Grundlagen  des  Abendlandes  religionspsycholo­
               gisch, so etwa die natürliche und klimatische Bedingung dafür, daß die Orientalen „Licht“
               und  „Finsternis“  im  Schema  von  „gut“  und  „böse“  deuteten.  (Herder  1993:  52,  ZZ. 7-37:
               „Über die ersten Urkunden des Menschlichen Geschlechts. Einige Anmerkungen“)
            40  Erinnert sei hier an Reinhart Kosellecks These vom Säkularierungsprozeß im bürgerlichen
               Bewußtsein,  der  die  Eschatologie  in  eine  fortschrittliche  Geschichte  transponiert:  „Der
               moralische Bürger war immer, [...] geborgen in einer Geschichtsphilosophie, die auch dem
               Namen nach ein Produkt des  achtzehnten Jahrhunderts  ist.  Sie  trat  weitgehend das  Erbe
               der Theologie an. Die  christliche Eschatologie in  ihrer  abgewandelten Form als säkularer
               Fortschritt,  gnostisch-manichäische Elemente, die in dem Dualismus von Moral und Poli­
               tik   verschwunden   sind,   antike   Kreislauflehren,   schließlich   die   jüngste
               naturwissenschaftliche  Gesetzlichkeit,  die  auf die  Geschichte  übertragen  wurde  - all  dies
               hat  dazu  beigetragen,  das  geschichtsphilosophische  Bewußtsein  des  achtzehnten Jahrhun­
               derts zu formen.“ (Koselleck 1973: 108)
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