Page 47 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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I. Ursprünge
1. Die akademischen Grundlagen
Im folgenden möchte ich den akademischen Grundlagen von Hölderlins mytho
logischem und theologischem Denken nachgehen. Zuerst will ich den äußeren
Aufbau von Hölderlins Studium am Stift analysieren (1.1), um in einem zweiten
Schritt (1.2) seinen inneren Werdegang als angehender Theologe zu beleuchten.
1.1 Die Entfesselung der Vergleichbarkeit
Von 1788-1793 war Hölderlin Stiftler in Tübingen.43 Die Art und Weise, wie
Hölderlin die orthodoxen Lehrinhalte modifizierte und relativierte, aber auch der
Schwung, mit dem er sich neue Gedanken und Methoden seiner Lehrer aneignete,
prägten die Wandlungen seines theologischen Denkens. Zu nennen ist in diesem
Zusammenhang der unkonventionelle „Kantianismus“ des Repetenten Carl
Immanuel Diez (1766-1796) oder die „modern“ anmutende Bibelexegese des
Orientalisten und Stiftsephorus Christian Friedrich Schnurrer (1742-1822). Nur
vor dem Hintergrund von Hölderlins Lektüre der antiken und biblischen Li
teratur, aber auch der damals diskutierten Philosophie (Plato, Spinoza, Leibniz,
Kant) gewinnt sein messianisches Denken Kontur. Auch geistige Moden und
Kontroversen der Zeit wurden den Stiftlern in diesen Jahren vermittelt: Klas
sizismus und Philhellenismus durch den Repetenten Carl Philipp Conz (1762-
1827); das Interesse für die „ebräische Poesie“ Herders oder die Rezeption des
Fragmentistenstreits durch Schnurrer. Die Lektüre der Schriften Jacobis nährte
das Interesse am Spinoza-Streit.
Die Ausbildung der Pfarramtskandidaten am Tübinger Stift gliederte sich in
ein zweijähriges Studium der Philosophie (im Falle Hölderlins von 1788-1790),
gefolgt von drei Jahren Theologie , die zum eigentlichen Abschluß, dem
Konsistorialexamen mit Probepredigt führten (1790-1793). Anschließend waren
die Stiftler für Vikariate im württembergischen Pfarrdienst vorgesehen. Die erste
Phase endete mit dem Magisterspecimen (für Hölderlin 1790), die in Länge und
Umfang einer Hausarbeit im heutigen Sinne entsprachen, und die die Kandidaten
den Vorlesungsthemen ihrer Professoren widmeten. Bemerkenswert ist, daß die
Bestlocierten am Ende der ersten Phase nicht nur eine freiwillige Disputation in
Kleingruppen absolvieren konnten, sondern alle Kandidaten ausgewählte
„Inauguralthesen“ ihrer Lehrer vor einer Kommission „verteidigen“ mußten. Das
Thesenangebot wurde zuvor ausgeschrieben (vgl. Nicolin 1969/70: 243-245). Das
43 „Stiftler“ im engeren Sinne waren nur die „stipendarii“, das heißt diejenigen, die ein
„Stipendium“ hatten, also im Stift Kost und Logis hatten. Andere Studenten wohnte dage
gen außerhalb der Stiftsmauern. Als Stadtbewohner nannte diese Gruppe sich „oppidani“
(vgl. Jacobs 1989: 107f.)