Page 48 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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46 I. Kapitel: Ursprünge
Theologiestudium wiederum war dreifach untergliedert. In der „Dogmatik“
lernten die Priesteramtskandidaten die katechetischen Grundlagen nach den
Kompendien der Schuldogmatik. Zweitens galt die „Polemik“ oder
„Kontroverstheologie“ der „systematischefn] Darstellung der Unterschiede [...]
zwischen den verschiedenen protestantischen Konfessionen, zwischen den ver
schiedenen christlichen Kirchen, ja unter Umständen sogar zwischen den
verschiedenen Religionen“ (Franz 1996: 10, Anmerkung Nr. 4). Hier zeichnete
sich also bereits zaghaft der Umriß einer komparatistischen oder vergleichenden
Vorgehensweise ab. Das dritte Fach „Homiletik“ umfaßte die Predigtlehre,
vertieft durch wöchentliche Praxis: Die Stiftler übten sonntags vor den
Mahlzeiten die freie Predigt.
Die eigentliche Lektüre und Exegese der biblischen Texte fand dagegen im
Fach „Orientalistik“ statt, also in einer Philologie. Die Psalmenvorlesung von
Ephorus Christian Friedrich Schnurrer war deswegen auch Teil der ersten Stu
dienphase (er wiederholte das Pensum von 1783/84 im Wintersemester 1788, dem
Antrittssemester Hölderlins). Denn bei der Lektüre und Exegese der Bibel han
delte es sich ja gemäß der Studienstruktur nicht um „Theologie“ im engeren
Sinne. Die Heilige Schrift war damit in erster Linie Gegenstand philologischer
und hermeneutischer Betrachtung. Diese Auffächerung des Tübinger Studiums
hat vielleicht ungewollt zur Trennung von Offenbarung und Metaphysik, von
Theologie und Philosophie beigetragen, ein Prozeß, der mit der Aufklärung
neuen Auftrieb bekam und in der Generation von Hegel, Schelling und Hölderlin
auf einmalige Weise poetisch und philosophisch an Moment gewann.
Ausgerechnet in der Kaderschmiede des schwäbischen Pastoren-Nachwuchses
lernten die jungen Theologen d:e maßgeblichen Schriften der rationalistischen
und philologischen Bibelkritik kennen. Das belegt Hölderlins komparatistische
Magisterarbeit. Thematisch schließt sie sich an die Rezeption dieser
„entmythologisierenden“ und „historisierenden“ Forschungstendenzen an. Im
polaren Kräftefeld zwischen Philosophie und Philologie, also zwischen
Radikalempirismus (Reimarus) oder Vernunftreligion (Kant) einerseits und
Hermeneutik andererseits (Herder, Michaelis, Heyne), gab es verschiedene
Vermittler. Die Stiftslehrer Gottlob Christian Storr (1746-1805) und Johann
Friedrich Flatt (1759-1821) wirkten als Reformer auf dogmatischer Seite (vgl.
Jacobs 1989: 106f.); Schnurrer mit seiner verdeckten Lehrweise, die stets den
„frommen Schein“ wahrte (Jacobs 1989: 105), aber inhaltlich stets einem auf
geklärt modernen Ansatz verpflichtet blieb, moderierte zwischen Institution und
Studentenschaft; und Repetenten wie Conz oder Diez schließlich standen auf
seiten der Studenten. Die Studien von Friedhelm Nicolin, Wilhelm G. Jacobs und
Michael Franz haben gezeigt, wie hoch und frei das kritische Bewußtsein im Stift
„von oben“ wie „von unten“ her entwickelt war. Die Sympathie zwischen den
Gesinnungen verlief keineswegs „horizontal“, etwa im Sinne der Vorstellung einer
jakobinisch-kantianisch gesonnenen Studentenschaft von Oppositionellen, die
sich unter dem Rad einer Professorenriege winden mußte. Vielmehr gab es