Page 49 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die akademischen Grundlagen                 47


       „vertikale“  Loyalitäten,  wie  die  Verteilung  der  Magisterthemen  beweist  (vgl.
       Jacobs 1989: 93-112). Zwei Compromotionalen Hölderlins folgten konsequent der
       modernen Exegese des Ephorus,  nur einer der etablierten Dogmatik Storrs.  Diese
       vertikalen  Geistesallianzen  verfestigten  einen  Antagonismus  der  Denkansätze
       oder,   akademisch  ausgedrückt:   der   Disziplinen   und   Fächer   (vgl.
       Jacobs 1989:  107f.).   Im   „modernen“,   historisierenden   Exegese-Unterricht
       Schnurrers  lernten  die  Studenten  das  zu  widerlegen  oder  zumindest  zu
       relativieren,  was  die  Schuldogmatik  ihnen  z. B.  als  „Vernunftbeweise  Gottes“
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       abverlangte.44 4
           Diese Spannung von Philosophie, Theologie und Philologie wurde durch die
       Diskussion  der  zeitgenössischen  Philosophie  bis  zum  Zerreißen  stimuliert,  ein
       Phänomen,  das  sich  in  den  Implikationen  von  Spinozas  Tractatus  theologico-
       politicus (1670) verdichtet, der als Urschrift der historisch-kritischen Bibel-Lektüre

       angesehen  werden  kann  und  stets  als  Quelle  des  Atheismus  verdächtigt  wurde.
       Geschichtliche  und  aktuelle  Debatte  scheinen  in  diesem  Text  verknüpft,  die  Re­
       zeption  für  die  Tübinger  Theologie  und  Philologie  ist  gesichert  (vgl.
       Jacobs  1989: 97;  1991:  39;  Franz  1996:  163-169).  Hier  wurde  zum  ersten  Mal  der
       systematische Versuch  unternommen,  Theologie und Philosophie,  Vernunft  und
       Offenbarung  zu  entkoppeln.  Die  Schrift  stellt  die  geistige  Wiege  für  jene
       parallelisierende  und vergleichende  Methodik  bereit,  die  für  das  18. Jahrhundert
       maßgeblich werden sollte.
           Spinoza  postulierte  in  seinem  Traktat  erstmals  die  metaphorische  und  to­
       pische Deutung der Heiligen Schrift; die Propheten waren für ihn große Visionäre
       und  moralische  Instanzen,  aber  keine  Wundertäter  oder  Träger  von  Offen­
       barungen;  auch  die  Vorstellung  eines  ethischen  Kerns  der  Bibel,  der  sich
       universaltheologisch zugleich in anderen Religionen erkennen lasse, geht auf diese
       Schrift  zurück.  In  Weltanschauungsfragen vertrat  Spinoza  die  Bekenntnisfreiheit
       lange vor  den  Proklamationen  der Französischen  Revolution;  die  politisch-welt­
       liche, nicht die geistliche Macht sollte diese Freiheit schützen.
           Diese  Gedanken  bildeten  den  kreativen  Grund für  die Entfesselung der  Ver­
       gleichbarkeit,^  von  der  Hölderlins  „Parallele“  zwischen  Salomonischer  Weisheit
       und der Bauernethik  Hesiods  so  begeistert  spricht.  Die  Trennung von  Vernunft
       und  Offenbarung  ermöglichte  erst  deren  erneute  Parallelisierung  aus  einer
       höheren  Perspektive,  ausgehend  von  freier  Reflexion  und  gründlicher  Analyse.
       Neben   den   philologischen,   kosmologischen   und   ideengeschichtlichen
       Implikationen  des  Begriffs  „Parallele“ /„Parallelismus“,  denen  ich  im  nächsten

       Kapitel  nachgehen  will,  war  dieses  „Parallelisieren“  als  rezeptive (und  später  bei


        44  Vgl. dazu vor allem den Brief an die Mutter über die „Beweise der Vernunft für das Dasein
           Gottes“ (KHA III: 77-79)
        45  Der  Begriff  „entfesselte  Vergleichbarkeit“  geht  auf eine  Anregung  von  David  Gößmann
           zurück.
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