Page 50 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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48 I. Kapitel: Ursprünge
Hölderlin, Hegel und Schelling auch als produktive) Methode von ungeheurer po
litischer Brisanz. (So kam schließlich auch Spinoza in seiner Trennung von
Religion und Wissenschaft nicht um das Politische herum.) Das Parallelisieren
innerhalb der Vergangenheit, das heißt die kritische Synopse biblischer, antiker
und orientalischer Texte, zog die Parallelisierung der Vergangenheit mit der
Gegenwart zwangsläufig nach sich. Jacobs überliefert ein Briefzitat Schellings, in
dem er Hegel bekennt, daß er eigentlich ein anderes Thema für eine theologische
Dissertation ausgewählt hätte, wenn er freier gewesen wäre.46 Er wollte nämlich
diejenigen Textverfälschungen untersuchen, die die orthodoxen Dogmatiker im
mer wieder im Kampf gegen die „Ketzer“ ins Feld führten:
Es verwundert nicht, daß Schelling auf dieses Thema kam; im Sommersemester 1791
hatte Schnurrer Vorlesungen über die neutestamentliche Textkritik gehalten. Man
kann in dem, der Schelling [...] abriet, dieses Thema zu behandeln, Storr, aber auch
Schnurrer vermuten, der seine Position gefährdet sehen konnte, wenn seine Schüler
allzu offen ihre, d. h. seine Meinungen aussprachen. Eine solche Gefährdung bestand
weniger in den Ergebnissen der historischen Arbeit als vielmehr in der möglichen
Parallelisierung zur Gegenwart. (Jacobs 1989: 94f.)
Die Erschütterung der Einheit von Theologie und Philosophie durch den Fort
schritt der philologischen Textkritik und der hermeneutischen Erkenntnis schlägt
strukturell auch auf die politische Ebene durch: Was „vergleichbar“ wird, verliert
seinen alleinigen Geltungsanspruch und muß sich zwangsläufig einer paralleli-
sierenden Enthierarchisierung fügen. Das galt für die biblisch fundierten Dogmen
ebenso wie für die Amtsträger der protestantischen Orthodoxie, die Autoritäten
des Stifts und die adeligen Machthaber im partikularistischen Deutschland. Das
komparatistische Parallelisieren praktiziert gewissermaßen die „egalite“ der
biblischen und antiken Texte auf der philologischen Ebene und repräsentiert in
formaler Hinsicht die „fraternite“ der Ideen, wie sie sich etwa in universal
ethischen Maximen ausdrückt (z. B. die Erhöhung der Niedrigen und die
Erniedrigung der Hohen bei Salomo und Hesiod). Die philologische Durch
dringung von biblischer Theologie und antiker Mythologie politisierte
zwangsläufig beide. Gustav Schwab überliefert in seiner Ausgabe von 1846
folgenden Hinweis in einem Bericht über die politische Stimmung im Stift:
Hölderlin pflegte seinen Freunden, wenn ihn das Schicksal von denselben trennte,
Treue zu schwören, p a TOUq ev MapaBcovt Jteaovtai; und verknüpfte überhaupt das
Altertum, das lebendig vor seiner Seele stand, gerne bei jeder Gelegenheit mit der Gegen
wart. (KHA IO: 614, ZZ. 24-29; Nachweis ebd. 971 - Übs.: „Im Namen der
Gefallenen bei Marathon“)
46 Schelling schreibt an gleicher Stelle an Hegel (Brief vom 21. Juli 1795), sein zunächst ge
plantes Thema wäre die „beißendste Satire“ geworden, eine Denkfigur, die die These
stützt, am Stift hätten einige Lehrer eine verdeckte Lehrweise praktiziert (vgl. Jacobs 1989:
95, Nachweis 299).