Page 51 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die akademischen Grundlagen 49
Bei jeder Gelegenheit boten Philologie, Theologie und Mythologie eine reich
haltige Fundgrube für geistige und politische Opposition, wie hier die
kämpferische Schwurformel, die auf Leonidas und die Gefallenen von Marathon
anspielt.
1.2 Hölderlins theologische „Metamorphosen“
Die Theologen Christian Friedrich Rosier (1736-1821), Ludwig Joseph Uhland
(1787-1862), Gottlob Christian Storr und Johann Friedrich Flatt lasen in der Zeit
vom Wintersemester 1788 bis Sommersemester 1793 zu je ausgewählten Aspekten
des Alten und vor allem des Neuen Testaments: Schnurret47 über die Psalmen, die
Sprichwörter Salomos („Proverbia“), das Buch Hiob, aber auch über die Apostel
geschichte und die katholischen Briefe; die anderen über das Johannes-
Evangelium, die paulinischen Briefe und die Synoptiker.
Aber schon bald frustrierte Hölderlin die sture Dogmatik nach Christian
Friedrich Sartorius’ Standardlehrbuch Compendium Theologiae Dogmaticae
(Tübingen, 1777/78; 1782). Das Werk war eine der vielen „Ruderbänke“
darstellte, an denen Hölderlin „auf der Galeere der Theologie“ (KHA: III, 105,
Z. 21) in die Riemen greifen mußte: Das Compendium wurde im sturen
Semestertakt mehrfach wiederholt. Selbst die reformerischen Ansätze von Storr
und Flatt48 ließen den spekulativen Geist des jungen Hölderlin unbefriedigt,
wobei Jacobs das negative Bild der Tübinger Theologie aufhellt und das pauschale
47 „Schnurrer las im Wintersemester 1788/89: Apostelgeschichte (öffentlich) und Psalmen
(privatim); im Sommersemester 1789: katholische Briefe (öffentlich) und Psalmen, Forts,
(privatim); im Wintersemester 1789/90: Matthäus, Markus und Lukas (öffentlich) und
Hiob (privatim); im Sommersemester 1790: Matthäus, Markus und Lukas, Forts,
(öffentlich) und Proverbia (privatim).“ (Betzendörffer 1922: 41) Auf diese letzte Vorlesung
geht wahrscheinlich das Thema von Hölderlins Magisterspecimen zurück (vgl. ebd.)
48 Johann Friedrich hatte noch einen Bruder, Karl Christian Flatt (1772-1843), der Storrs
Compendium von 1777/78 ins Deutsche übersetzte (Lehrbuch der christlichen Dogmatik,
1803). Johann Friedrich Flatt, zunächst außerordentlicher Professor für Philosophie und
schließlich Extraordinarius für Theologie am Stift, ist ein Schüler Storrs (vgl. Franz 1996:
128-138). Obwohl Flatt an Schriftbeweisen für Dogmen wie z. B. den Sühnetod (die sog.
sacrificio vicaria) festhielt und auch andere dogmatische „Scheußlichkeiten“ vertrat (Franz
1996: 130), die den Oppositionellen unter den Stiftlern zutiefst widerstrebten, steht Flatt
zwischen den Fronten von „Aufklärung“ (Fichte, Kant) und „Aberglaube“ (Storr, Jacobi).
Das hat Michael Franz mit seiner akribischen Analyse der Schriften, Artikel und Rezen
sionen Flatts gezeigt (vgl. Franz 1996: 129). Storr und seine Schule versuchten zwar
einerseits, das Wunderbare und Übernatürliche zu verteidigen, blieben aber andererseits
den neuesten Methoden der hermeutischen Bibelkritik gegenüber aufgeschlossen. Auch in
eine rationale Welt der Kausalitäten paßte demnach die Vorstellung von übernatürlichen
Faktoren, zumindest in den Grenzbereichen.