Page 52 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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50                        I. Kapitel: Ursprünge


          Verdikt über die Qualität des Tübinger Curriculums gründlich anzweifelt.49 Auch
          Michael  Franz  hat  diese  Zweifel  erneut  bestätigt  und  betont  das  besondere
          Geistesklima  des  „Tübinger  Humanismus“  zwischen  Liberalität  und  Orthodoxie
           (Franz  1996: 99-107). Jacobs hatte im Anschluß  an Martin  Brecht  (1963;  1973/74)
          und  Friedhelm  Nicolin  (1969/70)  erstmals  Natur  und  Gehalt  des  Tübinger
          Curriculums  anhand  der  Dissertationen,  Magisterarbeiten  und  Examensthemen

          erarbeitet.50 * Er  kommt  dabei  zu  einem  differenzierteren  Bild  von  Lehrinhalten
          und  Vermittlungsleistungen  der  Tübinger  Stiftslehrer,  als  z. B.  Manfred  Frank
          (1985) oder Jochen Kirchhoff (1982) in ihren Schellingarbeiten wahrhaben wollen.
          Jacobs und Franz sträuben sich vor allem dagegen, zeitgenössische Einschätzungen
          der  Tübinger  Lehre  von  außen  (z. B.  durch  Karl  Friedrich  Reinhard,  Friedrich
          Nicolai,  vgl.  Franz  1996:  99ff.)  für  repräsentativ  oder  gar  objektiv  zu  nehmen.
          Stoßseufzer, wie der Hölderlins von der  „Galeere“,  tun  sie  als Subjektivismus  ab.
          Auch  die  Sekundärliteratur  zur  theologischen  und  pietistischen  Prägung  von
          Hölderlins  Denken  sitzt  dem  aufklärerischen  Vorurteil  vom  institutionalisierten
          Tübinger Anti-Demokratismus teilweise auf.  So wird gerne aus aus dem Rapport
          Schnurrers  an  Herzog  Carl  Eugen  zitiert,  in  dem  der  Ephorus  von  der
          „französischen  Anarchie“   berichtet  und  seinen  Dienstherren  dahingehend
          beschwichtigt,  daß  die  „demokratische  Denkungsart“  nicht  bei  den  Repetenten
          verbreitet  sei  (vgl. Gaskill  1976:  119).  Allerdings  wurde  Schnurrer  schon  früher
          gegen das übliche Vorurteil  in  Schutz  genommen,  wenn  von  dem  „by no means
          totally illiberal Ephorus“ die Rede war, vgl. ebd. und KHA III: 607-616; besonders
          610, ZZ.  13 und 23f.).
              So  ist  denn  die  einzigartige  geistige  Laboratmosphäre  am  Stift  mit  ihren
          komplexen Abstufungen  „zwischen Revolution und Orthodoxie“  zu  analysieren,
          in  der es  nicht  immer eindeutige  Positionen  (anti-dogmatischer oder pro-rationa­
          listischer  Art)  gegeben  hat,  sondern  eine  Fülle  von  kreativen  und  innovativen
          Nuancierungen  verschiedener  Standpunkte.  Das  spiegelt  z. B.  die  vielschichtige
          Rezeption  des  Fragmentistenstreits,  der  für  Hölderlins  Messianismus  wichtig
          wird. Keineswegs teilten die Stiftler den radikalen Empirismus des Fragmentisten,
          der  letztlich  auf  philologisch-hermeneutische  Verfahren,  wie  z. B.  die  Quellen­
          kritik,  verzichtete.  Vielmehr  stimmten  sie  den  Ausgleichsversuchen  der
          Stiftslehrer zu:  aus einer Mitte zwischen dogmatischem Supranaturalismus  (Storr)
          und  historischem  Radikalempirismus  (Reimarus)  ging  die  Lösung  von
           „Rationalisten“  wie  Schnurrer  hervor:  die  Offenbarung  ist  nur  das  Kinderkleid
          der  Vernunft.  Der  Tübinger  Unterricht  in  Exegetik  und  Philologie  hatte  also



            49  Wilhelm G. Jacobs  weist  auf den „außerordentlichen  Lehrerfolg“  hin,  den  „Professor [...]
              Flatt“  gehabt  habe  Qacobs  1991:  31), vor allem  mit  seiner Vorlesung  über „Psychologie“,
              die Hölderlin zu  seiner Passage  über die  „Erfahrungsseelenlehre“  in  seiner Magisterarbeit
              anregte (KHA II: 467, ZZ. J5ff. und Franz 1996:  129).
            50  Vgl. Jacobs  1989; zu Hölderlins Bildungsgang vgl. Betzendörffer  1922; Leube  1936; Brecht
               1963,  1973/74; Brecht/Sandberger 1969; Jacobs  1991.
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