Page 53 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die akademischen Grundlagen 51
einen erheblichen Anteil an der Entstehung geschichtsphilosophischer und
reformtheologisch-messianischer Gedanken in der Generation von Hölderlin,
Schelling und Hegel.
Diese vorsichtige Relativierung der dogmatischen Lehrinhalte und der kri
tischen Kontroversen der Zeit fließt spürbar in Hölderlins geistige Entwicklung
ein. Zunächst berichtet der angehende Theologe den Seinen noch affirmativ von
Gottesdienstbesuch, praktiziertem Gebet und Eucharistie.52 Auch predigt er mu
stergültig während der Speisezeiten in der „Communität“ (der Mensa des Stifts),
wie ein erhaltenes Manuskript über eine Stelle aus dem Johannesevangelium do
kumentiert. Allmählich distanziert sich Hölderlin jedoch von dem Gedanken,
wirklich protestantischer Geistlicher zu werden.53 Das veranschaulicht sein en
thusiastischer Brief an den Bruder Karl vom September 1793 (KHA III: 109f.).
Darin gebraucht er Begriffe wie „Liebe“ (ebd. ZZ. 15; 19), „selig“ (ebd. Z. 20),
„heilig“ (ebd. Z. 31), „herrlich“ (ebd. Z. 29) oder „künftige Zeit“ (ebd. Z. 33) in
einem universalen poetisch-ästhetischen Sinne. In der Sprache des privaten Briefes
bereitet Hölderlin die Säkularisierung seiner theologisch durchwirkten Sprache
vor. In Jena wird er sogar analytische Termini säkularisieren, wenn er im
„Systemprogramm“ von „Monotheismus der Vernunft und des Herzens“ spricht
oder den „Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst“ postuliert
(KHA II: 577, ZZ. 3-5). Auch den Begriff „Synkretismus“, der für die messianische
Mythogenese so markant ist, verwendet Hölderlin später in einem übertragenen
Sinne (KHA III: 378, Z. 3). Andererseits bleibt die transzendente Verankerung
seines Erlösungsdenkens bis in die Postulate des „Systemprogramms“ von 1795/96
erhalten, die auf den ersten Blick ganz säkular und geschichtsphilosophisch
immanent anmuten. Das Fragment des „Entwurfs“ endet mit dem Satz: „Ein
höherer Geist vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften,
sie wird das letzte, größte Werk der Menschheit sein“, ein Satz, der die
messianische Gewißheit eines innergeschichtlichen eschatons festschreibt, das
„höher“ und jenseitig motiviert ist (KHA II: 577, ZZ. 24-26).
Hölderlin entfernt sich in mehreren Phasen von seiner pietistischen Er
ziehung und von der supranaturalistischen Christentumsauffassung seiner Lehrer
am Stift. Sein Denken und seine Begriffe verschieben sich dabei in zwei Rich
tungen: Zunächst favorisiert Hölderlin immer stärker die pneumatische Tendenz
der Paulinischen Theologie, die christliche Werte und Begriffe in ihrem Geist
begriff universalisiert (1). Dann säkularisiert er religiöse Begriffe mit
Naturbildern, werden Theologeme metaphorisch „naturalisiert“ (2); die Ver
52 Hölderlin äußert sich sogar noch affirmativ über sein künftiges Priesteramt: „O wenn ich
sonst keinen ausgebreiteteten Nutzen stiften kann in der Welt, so bleibt mir doch dies, mit
brüderlichem Herzen einst eine Gemeinde zu belehren und zu ermahnen.“ (Brief an die
Mutter vom August 1793, KHA III: 107, ZZ. 18-21)
53 Vgl. dazu Wagner in Lawitschka 1989/90/91: 90 (Anmerkung 40) und Brief an die Mutter
vom Januar 1799 (KHA III: 335-342, besonders 336f.; 339f.).