Page 54 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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52 I. Kapitel: Ursprünge
bindung theologischer Begrifflichkeit mit dem Schönen bildet schließlich eine
weitere Form der Säkularisierung: die „Asthetisierung“ (3).
Zur Pneumatisierung (1): Der Apostel selbst erscheint Hölderlin in einem ent
scheidenden Brief als „Mann [sjeiner Seele“ (KHA III: 207, Z. 24). An anderer
Stelle empfiehlt er Hegel die Paulinischen Briefe als Anregung für die syn
thetischen Denkfiguren seines Freundes im Zeichen des „Geistes“ (KHA III: 209,
ZZ. 35-37). Hölderlin folgt also dem säkularisierenden Sog einer allgemeinen
Pneumatisierung christlicher Begriffe und Theologeme, der auf das vor- und
frühromantische Synthesedenken eine immense Wirkung hatte. Der poetische
Gebrauch von Begriffen wie „Gemeingeist“, „Gemeinde“, „Glaube“, „Liebe“ und
„Geschlecht der kommenden Jahrhunderte“ (KHA III: 109, ZZ. 19f.) sind Erwei
terungen von Theologemen zu philosophisch-poetischen Topoi.
Zur Naturierung (2): Eine zweite Tendenz ist die Naturierung theologischer Denk
figuren, eine Verschiebung dogmatischer Axiome ins Naturhaft-Organische (vgl.
den Begriff „Naturierung“ bei Binder 1973/74: Iff.). So gerät dem Briefeschreiber
der Glaube an die Perfektibilität des Menschen zu „Keimen von Aufklärung“, die
er im Menschengeschlecht „wecken“ will (KHA III: 109, Z. 32). Hölderlin will die
„Ubernatürlichkeit“ der christlichen Heilsgeschichte, wie sie sich z. B. im Wun
derdogma der Supranaturalisten manifestiert, zurückholen auf den Boden des
Wirklichen. Bilder wie die Zeit der „Reife“ (109, Z. 33) und des „Gedeihens“ (109,
Z. 23) übertragen die eschatologische Vorstellung vom messianischen Aion („die
goldnen Tage“, „das Geschlecht der kommenden Jahrhunderte“, 109, ZZ. 9 und
19f.) in Naturvorstellungen. Sein Brief bewahrt trotz der Transformation ins Na
türliche die christliche Diktion. Wie ein Echo antworten die Naturbilder auf die
christlichen Grundgedanken, die mit aufklärerischen und fort
schrittsoptimistischen Ideen angereichert sind. Hölderlins chiliastisch genährte
„seligst[e] Hoffnung“ (109, ZZ. 20f.), der „Glaub[e] seiner „Seele“ im Einklang mit
seinem „Herzensbruder“ (110, Z. 9) an die „Bildung, Besserung des Menschen
geschlechts“ (110, 9f.) schießen zusammen im Bild vom „erwärmendfen] Licht“
(109, ZZ. 23f.) einer kommenden Zeit. Diese Ordnung, die die „Früchte“ (109,
Z. 29) aller utopischen Anstrengungen bringt, wird Einzug halten in die „eiskalte
Zone des Despotismus“ (109, ZZ. 24f.).
Schließlich verschmelzen christliche Begriffe in ihrer je eigenen pneu
matischen oder pietistischen Bedeutung mit der Natursemantik, hier verdeutlicht
am Adjektiv „herrlich“. Neben „heilig“ ist „herrlich“ eines der Lieblings-Epitheta
in Hölderlins Frühzeit:
Diese Keime von Aufklärung, diese stillen Wünsche und Bestrebungen Einzelner zur
Bildung des Menschengeschlechts werden sich ausbreiten und verstärken, und herr
liche Früchte tragen. (KHA EU: 109, ZZ. 26-29)
Im Begriff der „herrlichen Früchte“ verdichtet Hölderlin christliche und natur
hafte Terminologie. Das Adjektiv „herrlich“ ist zunächst aus seiner konkreten
pneumatischen Bedeutung herausgelöst, wie sie im Johannesevangelium zum