Page 55 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die akademischen Grundlagen 53
Ausdruck kommt (z. B. in Jesu hohepriesterlichem Gebet Jh 17, Iff., besonders
20-24). Auch den dogmatischen Sinn von „herrlich“, wie ihn Hölderlin in seinem
frühen Predigtentwurf über Jh 2, 7-9 vertritt, überwindet er auf dieser Stufe seines
Naturdenkens. In seiner Exegese der Johannesstelle verstand Hölderlin Jesu
„Herrlichkeit“ noch als „übernatürlich“, als einen höheren Zustand, der errreicht
sei, „wenn einst die Harmonie der seelenlosen Natur aufgelöst ist“ und die „viel
höhere Harmonie der sittlichen Welt beginnen werde.“ („Predigt über 2. Joh.
7-9“, KHA II: 459, ZZ. 6-8). Diese frühe Auffassung von „Herrlichkeit“ fußt auf
einem supranaturalistischen Denken, das die Natur abwertet und die
Übernatürlichkeit Gottes und seines Sohnes dogmatisch fixiert. Die Metapher von
den „herrlichen Früchten“ am Ende von utopischer und erzieherischer Bemühung
um das „Menschengeschlecht“ führt dagegen eine aufgewertete Naturvorstellung
ins Feld. Diese Naturvorstellung erscheint pantheistisch, geschichtsphilosophisch
und poetisch modifiziert. Das Bild von „Wärme“ (109, Z. 24) und Harmonie im
Brief an den Bruder stellt Eschatologie, Geschichtsphilosophie und
Naturgeschichte gleichberechtigt nebeneinander. Sie sind Ausdruck eines
übergeordneten Sinns der Geschichte.53
Im Bild der „Frucht“ aktiviert Hölderlin ein Schlüsselbild des pneumatischen
Denkens. Paulus und Johannes, die beiden wichtigsten Pneumatiker, haben sich
nämlich immer wieder organologischer Bilder bedient, so z. B. des
„Weizenkorns“. Bei Johannes steht dieses Bild für die Verherrlichung Jesu: wie das
„Korn“ vergeht, so geht Jesus im Vater auf (Jh, 12, 24). Das „bloße Korn“, der
„irdische Leib“ muß für Paulus ebenfalls sterben, damit dem Menschen Halm und
Frucht des „himmlischen Leibes“ erwachsen können (1 Kor 15, 35-49). Beide Deu
tungen werten das Materielle zugunsten des Pneumatischen ab. Das Körperlich-
Konkrete ist nicht das Eigentliche, sondern nur Hülse. Ganz anders Hölderlins
Brief: Die materielle und körperliche Gestalt der Natur, ihre beseelte Wärme, ihre
Form- und Farbenfülle verleiht dem Entwurf einer kommenden Zeit ihre klare
Kontur. Heilsgeschichte wird zur Naturgeschichte und umgekehrt. Das verdichtet
sich in der pneumatisch-organologischen Formel von den „herrlichen Früchte[n]“
als Versinnlichung einer Messianität der Geschichte. Geschichte heißt:
„Wachstum des Rettenden“ (‘Patmos’ I, VV. 3f.) - und der Rettergestalten.
53 Man denke in diesem Zusammenhang an die berühmteste Säkularisierung, die einem theo
logischen Begriff im 18. Jahrhundert zuteil wurde: Kants philosophische Wiedergabe des
Gottesbegriffs durch die Naturmetaphorik. Seine „Naturabsicht“ steht in seiner Schrift
Zum ewigen Frieden (1795) synonym für den „Zweck“, das „Schicksal“ oder die
„Vorsehung“ der Geschichte: „Das, was diese Gewähr (Garantie) leistet, ist nichts Geringe
res, als die große Künstlerin Natur (natura daedala rerum), aus deren mechanischem Laufe
sichtbarlich Zweckmäßigkeit hervorleuchtet [...] und [die] darum [...] als tiefliegende Weis
heit einer höheren, auf den objektiven Endzweck des menschlichen Geschlechts
gerichteten [...] Ursache Vorsehung genannt wird [...].“ („Erster Zusatz. Von der Garantie
des ewigen Friedens“; Kant 1993 [1795]: 217 - Hervorhebungen original) Man beachte die
mythisierende Terminologie der „dädalischen“ Naturvorstellung.