Page 56 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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54 I. Kapitel: Ursprünge
Diese Verschiebung von Hölderlins Denken läßt sich bis in die Semantik
einzelner Wörter nachvollziehen: Das Wort „heilig“ in //et/sgeschichte erfährt
eine Säkularisierung vom religiös-theologischen Abstraktum in ein naturhaftes
Konkretum. Von der Bedeutung sanctum verschiebt sich das Wort in Richtung
der Vorstellung „heil“, „vollständig“ und „harmonisch ausgewogen“: „heilig“ ist
das harmonisch Entgegengesetzte, wie es in der Hexameterhymne ‘An den Äther’
(V. 5) oder im Hyperion (KHA II: 15, Z. 22; 16, Z. 1; 8) zum Ausdruck kommt. In
Hölderlins berühmtestem Oxymoron, dem „Äez/ignüchternen“ Wasser aus ‘Hälfte
des Lebens’ (V. 7) und ‘Deutscher Gesang’ (V. 18) wird das Wort „heilig“ vollends
zum Bedeutungspol eines dialektischen Ausdrucks, den es messianisch anreichert
(Logosspekulation, sobria ebrietas; zur Etymologie bei Hölderlin vgl. Zuberbühler
1969: 73f.).
Zur Ästhetisierung (3): Indem Hölderlin die rationalistische und suprana
turalistische Axiomatik seiner Stiftslehrer in natürliche Mythen und Metaphern
überführt, bereitet er einer dritten Säkularisierungstendenz den Boden: der Ästhe
tisierung. So wird aus dem „Reich Gottes“ der christlichen Verheißung über die
„unsichtbare streitende Kirche“ (KHA III: 207, ZZ. 22f.) erst eine pneumatische,
dann in der Verknüpfung mit dem „Hen kai pan“ eine pantheistisch naturalisierte,
und schließlich im Bild von der ästhetischen „neu[en] Kirche“ (KHA II: 40,
ZZ. 20f.), der „heiligen Theokratie des Schönen“ (KHA II: 108, ZZ. 25f.), eine
ästhetische Transformation.54
Hölderlins allmähliche Ablösung von der pietistischen Christusgläubigkeit
seines Elternhauses und seiner Jugendzeit (1774-1784) und die Relativierung der
Schultheologie in seiner Tübinger Zeit (1788-1793) faßt die Forschung mit einem
Begriff, den Hölderlin gerne verwendet, wenn er gegenüber Freunden oder der
Mutter seine Zweifel an Theologie und Pfarrberuf bekundet. Er spricht über seine
Schübe der Loslösung von seinen „Verwandlungen“ oder „Metamorphosen“:55
Es ist sonderbar; ich habe, seit wir uns fanden, so manche Metamorphose in meinem
Innern erlitten, so manches, woran ich mit all’ meiner Liebe hing, Ideen und Indivi
duen, die mich damals über alles interessierten, haben ihre Bedeutung für mich
54 Interessant an der Wortwahl: „Kirche“ ist der christliche Begriff für das religiöse Gemein
wesen; „Theokratie“ dagegen bezeichnet die Organisationsform der Juden zur Zeit der
Richter und Könige (vgl. Taubes 1991: 18). Das Wort geht auf Josephus Flavius zurück
(vgl. Assmann *1995: 34 und Nachweis dort). Als analytischer Begriff bildet die
„Theokratie“ eine der drei Grundformen Politischer Theologie. Neben die unmittelbare
„Gottesherrschaft“ treten der „Dualismus“ (z. B. der von Kaiser und Papst im Mittelalter)
und die „Repräsentation“ (z. B. das abendländische Gottesgnadentum als Einheit von Herr
schaft und Heil - vgl. Assmann ebd. 33-35).
55 Alle Stellenbelege bei Wagner 1991: 91, Anmerkung Nr. 42. Für „MetamorphosefnJ“:
Briefe an Neuffer vom April 1794, an Hegel vom 10.7.1794; für „Verwandlungen“: Briefe
an Hegel vom 24.10.1796, an Sinclair vom 24.12.1798, an den Bruder Karl vom 1.1.1799