Page 94 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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92 I. Kapitel: Ursprünge
Recht, Alabanda, rief ich, so wie alle große Arbeit, wo des Menschen Kraft und Geist
und keine Krücke und kein wächserner Flügel hilft. Da legen wir die Sklavenkleider
ab, worauf das Schicksal sein Wappen gedrückt [...] (KHA II: 120, ZZ. 25-28)
Was Hyperion an dieser Stelle noch nicht weiß: daß der Partisanenkrieg sich als
zutiefst unmenschlich heraussteilen wird; die sogenannten „Freiheitskämpfer“
verabsolutieren im Gegensatz zur Weltferne Hyperions umgekehrt das
herakleische Element. Kriegsverbrechen, Greuel und blinde Willkür im Kampf
gegen die vermeintlichen Unterdrücker sprechen allen hehren Idealen von Frei
heit, Gleichheit, Brüderlichkeit hohn. Der bewaffnete Kampf ist alles andere als
eine Synthese von Kraft und Geist, wie Hyperion in naiver Selbstverblendung
zunächst annimmt. Nachdem Hölderlin in seiner Hyperionfigur beide Hal
tungen, ikarische Naivität des Geistes und tätige Schuldverstrickung, durchgespielt
hat, kommt er zu einem neuen Heldenentwurf und Selbstbild: der proteisch mas
kierten Messiasgestalt, mythisiert in Odysseus, Chiron, (Philoktet) - Christus,
Johannes und Dionysos.
In der Entwicklung von Hölderlins Messianismus ist zwar eine Verinner
lichung des Erlösungsanspruchs spürbar; aber von der messianischen Universal-
Eschatologie mit politischem Anspruch läßt er nicht ab.85 Keineswegs verzichtet
Hölderlin auf die universelle Eschatologie zugunsten einer genügsamen Individual-
Eschatologie, wie sie das Projekt einer individuellen „Pädagogie“ (Taubes 1991:
74) des Christentums als Vorstufe gesellschaftlichen Fortschritts darstellt. Eine
solche individuelle Pädagogie als Kompensation für den Verzicht auf eine
universelle und politische Erlösung haben Origines und Augustinus im christ
lichen Denken begründet; noch Lessings Erziehung des Menschengeschlechts zehrt
davon (ebd. 72). Hölderlins „Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten“
bewahrt sich bis zuletzt das dialektische Zugleich von evolutionärer und
„revolutionärer Eschatologie“ (ebd. 82).
Faßt man diesen Gegensatz von individueller und gesellschaftlicher Dimen
sion in ein Begriffspaar Gershom Scholems, so erhellt die durchaus jüdische
Kontur von Hölderlins messianischem Denkens. Es handelt sich um den Gegen
satz von „Interiorisation“ (1) und „Exteriorisation“ (2). (1) meint die (christliche)
Hereinnahme des Erlösungsgedankens in die Sphäre des Individuellen,
Seelenhaften und Pädagogisch-Gnostischen; (2) zielt auf den Glauben an die rein
tzw/serweltlich bedingte Erlösung, die unabhängig ist von menschlichem
Einwirken, etwa im Sinne von Oetingers chiliastischem Diktum:
„Menschenhände thun nichts dabeiy“ (Oetinger 1864: I, 7; vgl. Gaskill 1978: 26
und Keller-Loibl 1995: 59).
85 Man unterscheidet „Individual-EJschatologieJ“ und „Universal-EJschatologieJ“
(LThK I: 1083). Jacob Taubes spricht von „allgemeiner“ und „individueller Eschatologie“
(Taubes 1993: 80).