Page 101 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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politischen und rechtlichen Bereich lediglich nach. Ein Wörterbuch kann
               dabei bloß als Instanz fungieren, die Sprachpraxis zu normieren, um bei der
               täglichen Ver ständigung eine Orientierung zu bieten. Das weite Wortfeld der
               Über tragungen des Wortes Klassiker auf alle möglichen Gegenstände des
               Kultur- und Alltagslebens gilt als fester Bestand teil der hochdeutschen Stan-
               dardsprache (vgl. Brandt 1976, S. 18f. sowie S. 112f.). Das Spektrum reicht
               vom Leinwand- (oder auch älter: Zelluloid-)Klassiker für einen erfolgreichen
               Kinofilm über Radklassiker (für ein berühmtes Radrennen wie die Tour de
               France) oder Showklassiker mit Blick auf die TV-Sendung »Dalli, Dalli« bis
               hin zum  Kitschklassiker für den Stargeiger André Rieu.

                  Die favorisierte Erhebung männlicher Repräsentanten von Spitzen leistungen
               in Kultur und Wissenschaft in den Rang von Klassikern deutet der Erziehungs-
               wissenschaftler Alfred K. Treml als das Ergebnis sexueller Selektion. Dabei
               vergleicht er die Kanonisierung von ›männlichen‹ Erfindungen und Schöp-
               fungen innerhalb der menschlichen Kulturgeschichte mit der bevorzugten
               Herausbildung von zweckfreien, aber auffälligen Merk malen im Tierreich,
               wie beispielsweise ›schöner Gesang‹ oder ›buntes Feder kleid‹. Herausragende
               Geistes- und Kulturleistungen signalisieren Treml zu folge einen genetischen
               Überschuss und optimieren die Chancen des Männchens, vom Weibchen
               erwählt, d. h. als Partner ›selektiert‹ zu werden. Das Klassiker-Phänomen
               wird damit zum Teilaspekt einer kulturbiologischen Evolution des Menschen
               (vgl. Treml, in: Charlier/Lottes 2009, S. 143-160). Die Erklärungen von Treml
               sind zwar sehr unterhaltsam (Beispiel: »Man publiziert nicht, um etwas zu
               sagen, sondern um beachtet zu werden«). Aber die vermeintlich empirische
               Herleitung aus dem angeführten Zahlenmaterial erscheint zutiefst fragwürdig
               (vgl. ebd., S. 154, Anm. Nr. 24).



                                        Klassikermacher


                  Im literaturwissenschaftlichen Sinne sind ›Klassikermacher‹ diejenigen
               Ak teure, die mit ihrer Wertschätzung und ihren Wertungshandlungen (wie
               Urteilen, Besprechungen, Kritiken, Editionen) bestimmten Autoren oder
               Werken der Literatur zu Ansehen und Geltung oder sogar zu Ruhm verhelfen
               und ihnen damit einen Platz auf der Beststellerliste, in gedruckten Literatur-
               geschichten, im Lehrbuch für Schulen oder auf den Lehrplänen von Universi-



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