Page 105 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Kaisers Marc Aurel (161-180 n. Chr.) und bilden den Prototyp des kurzwei-
               lig erzählten Bildungsbuches, das sein Wissen aus der ganzen Fülle antiker
               Autoren und Schriften kompilatorisch abschöpft.


                  In der deutschen Sprache ist die entsprechende Verbindung »klassische/r
               Schriftsteller« seit Mitte des 18. Jahrhunderts unter Einfluss des Französischen
               nachweisbar. Als »auteurs classiques« galten in Frankreich die mustergültigen
               Autoren einer Nation oder Sprachgemeinschaft. Allerdings stritten schon
               die deutschen Zeitgenossen über die exakte Herleitung des Wortes, so etwa
               der Sprachpurist und Wörterbuchmacher Joachim Heinrich Campe in seiner
               Schrift Ueber die Reinigung und Bereicherung der Deutschen Sprache (1794).
               Unter Rückgriff auf Gellius dokumentiert Campe die Etymologie des Wortes:


                  »Bekanntlich hatte Servius Tullius [etruskischer König Roms von 578-535 v.
                  Chr. − Anm. R. C.] die Bürger Roms in sechs Classen getheilt, und diejenigen,
                  die zu der ersten oder vornehmsten Classe gehörten, wurden vorzugsweise cives
                  classici genannt. Gellius nahm daher Gelegenheit, auch die ersten und besten
                  Schriftsteller seines Volks auctores classicos zu nennen.« (Campe 1794, S. 95).

                  Dahinter steht die Vorstellung von einer ›ausgezeichneten‹, höheren oder
               gehobenen sozialen Stellung. Im Lateinischen ist die Etymologie ursprünglich
               wert neutral. Man denke etwa an die Bedeutung von »Klassifizierung« oder
               »Klassifikation« (›Auszeichnung‹). Was klassifiziert ist, muss nicht zwangs-
               läufig herausragend oder hochstehend sein. Die metonymische Gleichsetzung
               des Vorgangs der ›Einteilung in Klassen‹ mit der Zuschreibung von ›ausge-
               zeichneter‹ Qualität erfolgte − wie bei Gellius dokumentiert − in einem

               gesonderten Schritt. Allerdings entsprach die lateinische Auffassung von
               Vorbild lichkeit noch keineswegs unserer heutigen Vorstellung. Sie bezog sich
               nämlich zunächst lediglich auf die sprachliche und vor allem grammatisch-
               formale Richtigkeit der Gedichte und Texte eines Schriftstellers, auf der
               wiederum seine Mustergültigkeit erst gründen konnte. Das ist typisch für das
               lateinische Denken, und ein Begriff dieser Musterhaftigkeit hat sich bis heute
               im Charak ter des gymnasialen Lateinunterrichts bewahrt, sofern sich ›gut‹
               dort noch weitgehend als ein Analogon zu ›richtig‹ verhält. Die lateinische
               Bedeutungsübertragung lebt  auch im modernen deutschen Sprachgebrauch
               fort, so etwa in dem umgangssprachlichen Aus druck, dass etwas ›klasse‹ sei.







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