Page 106 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Auch Goethe verwendete das Wort in diesem Sinne, freilich ohne sich oder
weitere Vertreter aus dem Weimarer Kreis im affirmativen Sinne als klassisch
zu bezeichnen. So klingt seine Definition in der Programmschrift Literarischer
Sanscülottismus (1795) bereits sehr problembewusst und erstaunlich modern.
Denn nur aus einer politisch geeinten Kulturnation kann Goethes Auffassung
zufolge ein klassischer Autor hervorgehen:
»Wann und wo entsteht ein classischer Nationalautor? Wenn er in der Geschichte
seiner Nation große Begebenheiten und ihre Folgen in einer glücklichen und bedeu-
tenden Einheit vorfindet; wenn er in den Gesinnungen seiner Landsleute Größe, in
ihren Empfindungen Tiefe und in ihren Handlungen Stärke und Consequenz nicht
vermißt; wenn er selbst, vom Nationalgeiste durchdrungen, durch ein einwohnen-
des Genie sich fähig fühlt, mit dem Vergangnen wie mit dem Gegenwärtigen zu
sympathisiren; wenn er seine Nation auf einem hohen Grade der Cultur findet, so
daß ihm seine eigene Bildung leicht wird; wenn er viele Materialien gesammelt,
vollkommene oder unvollkommene Versuche seiner Vorgänger vor sich sieht,
und so viel äußere und innere Umstände zusammentreffen, daß er kein schweres
Lehrgeld zu zahlen braucht, daß er in den besten Jahren seines Lebens ein großes
Werk zu übersehen, zu ordnen und in Einem Sinne auszuführen fähig ist.
Man halte diese Bedingungen, unter denen allein ein classischer Schriftsteller,
besonders ein prosaischer, möglich wird, gegen die Umstände, unter denen die
besten Deutschen dieses Jahrhunderts gearbeitet haben, so wird, wer klar sieht
und billig denkt, dasjenige was ihnen gelungen ist, mit Ehrfurcht bewundern, und
das was ihnen mißlang, anständig bedauern.« (Weimarer Ausg., I. Abt., Bd. 40,
1901, S. 198f.)
Deshalb hält Goethe den Vertretern der Berliner Spätaufklärung − also
den heftigsten Kritikern der Gegenwartsautoren jener Zeit − die partikulare
Zersplitterung Deutschlands vor Augen, die eine klassische Literatur verhin-
dere. Ein revolutionärer Umsturz sei in Deutschland unrealistisch, worüber
sich Goethe erleichtert zeigt. Unterschwellig verteidigt er damit zugleich die
provinzielle Provenienz des literarischen Weimar:
»Aber auch der deutschen Nation darf es nicht zum Vorwurfe gereichen, daß ihre
geographische Lage sie eng zusammenhält, indem ihre politische sie zerstückelt.
Wir wollen die Umwälzungen nicht wünschen, die in Deutschland classische
Werke vorbereiten könnten.« (Weimarer Ausg., I. Abt., Bd. 40, 1901, S. 199)
Eine weitere, schon zur Goethezeit vorherrschende Bedeutung des Wortes
ist die metonymische Nuance im Sinne von ›antik‹. Zu dieser Bedeutung
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